#Sachbuch

Verschüttete Literatur

Mirjana Stancic

// Rezension von Martin Sexl

Der Titel Verschüttete Literatur für diese Literaturgeschichte ist gut gewählt, denn trotz der nennenswerten Zahl deutschsprachiger SchriftstellerInnen im Raum des ehemaligen Jugoslawien – 1921, als im neu entstandenen „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ die erste Volkszählung stattfand, lebten hier immerhin noch mehr als 500.000 Menschen mit deutscher Umgangssprache (S. 15) – und vor allem des erheblichen Einflusses der deutschen, österreichischen und deutschsprachigen Kultur in diesem Raum, erfährt die deutschsprachige Literatur erst seit gut 20 Jahren etwas mehr Beachtung.

Das hat nachvollziehbare Gründe. Die Auswirkungen des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktaturen, die Suche nach nationaler und kultureller Identität, die „Jugoslawien-Kriege“ der 1990er-Jahre, der allzu oft rechtslastige ideologische Hintergrund bei der Thematisierung der deutschen Kultur in besagtem Raum, die nostalgische Verehrung der Habsburger-Monarchie, das Fehlen eines Zentrums und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eines Bürgertums, die tendenzielle Ignoranz der Germanistik gegenüber diesem Raum und vieles mehr ließen eine unvoreingenommene Analyse der deutschsprachigen Literatur auf dem Balkan über lange Zeit nicht zu. Neben dem bereits 1966 erschienenen bahnbrechenden Buch über den Habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur von Claudio Magris und der 2003 publizierten Literaturgeschichte Mitteleuropas (von Zoran Konstantinovic und Fridrun Rinner) kommt dem vorliegenden Band also eine Pionierfunktion zu, der man gerne nachsieht, dass sie – zumal dies auch explizit gemacht wird – „grundsätzlich einem positivistischen Ansatz, der im Kleinen einen enzyklopädischen Ansatz erhebt, und in erster Linie stark rekonstruktiv angelegt ist“, folgt (S. 30).

Der positivistische Ansatz macht aus der Not (der extremen kulturellen, sprachlichen und nationalen Heterogenität des Raumes) eine Tugend (einen enzyklopädischen Überblick) und geht angemessen mit der Tatsache um, dass sich „[a]us der Fülle der Autorennamen […] mit Gewissheit keine Typologie“ – geschweige denn ein System – ableiten lässt (S. 30). Denn nicht nur die Geschichte dieses Raumes ist heterogen und unübersichtlich, auch die dortige deutschsprachige Kultur und Literatur ist nicht einmal ansatzweise auf einen Nenner zu bringen: Von den „ethnischen Deutschen“, die seit dem 9. Jahrhundert im Raum des ehemaligen Jugoslawien siedeln, über eingewanderte „Donauschwaben“ bis zu „Gesinnungsdeutschen im Kulturellen […], die sich aus Gründen des politischen und kulturellen Prestiges für die deutsche Sprache bewusst entschieden haben“ (S. 30), von EinzelgängerInnen über AnhängerInnen der illyrischen Bewegung oder nostalgische MonarchistInnen bis hin zu überzeugten NationalsozialistInnen ist in der deutschsprachigen Literatur bis 1945 alles zu finden.

Zu Recht arbeitet jedoch Stancic einen zentralen geistesgeschichtlichen Kern heraus, der zumindest einen guten Teil des heterogenen Materials kulturhistorisch und -theoretisch zu strukturieren vermag. Diesen Kern könnte man historisch-politisch mit der Habsburger-Monarchie fassen, ideologisch mit dem Begriff „Mitteleuropa“. (Der einzige Vorwurf, den man der Autorin dabei nicht ganz ersparen kann: Sie reflektiert allenfalls am Rande die nostalgisierenden Konnotationen dieser Mental Maps und begreift sie zu unhinterfragt als beinahe objektive Beschreibungskategorien, und dies trotz eines Bekenntnisses zu Theoretikern wie Slavoj Žižek oder Homi K. Bhabha (S. 28), die – nationale, kulturelle, individuelle – Identität als heterogenes und ambivalentes Konstrukt begreifen. Stancic führt an einer Stelle zwar an, dass „Balkan“ nicht nur eine Region darstellt, sondern vor allem auch ein ideologisches Konzept, aber dem Buch merkt man diese Auffassung über weite Strecken doch nicht an.)

Ebenfalls zentral ist die Betonung der Tatsache, dass „den Sprechern des Deutschen (Deutsche, Österreicher, Juden) eine besonders ausgeprägte Ausstrahlungskraft im Kulturellen zufiel“ (S. 16) – Claudio Magris bezeichnete die Deutschen gar als die „Römer Mitteleuropas“ (S. 24). „Die Deutschen galten als Kulturträger, sie hatten grundsätzlich eine dominierende Rolle im Kulturbetrieb, man schaute zu ihnen auf.“ (S. 27) Die jüdische Kultur spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle, und  Stancic bezeichnet sie auch zu Recht als eine der „tragenden Säulen […] der deutschsprachigen Literatur und Kultur in den Ländern Jugoslawiens“ (S. 230). Auch wenn sie auf die Vernichtung des Judentums im Zweiten Weltkrieg zu sprechen kommt, geht sie doch nicht weiter auf die jüdische Kultur im Rahmen ihres Untersuchungsgegenstandes ein. Allerdings würde das den Rahmen ihrer Arbeit wohl sprengen. Erfreulicherweise spart die Autorin die nationalsozialistischen oder mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden SchriftstellerInnen nicht aus – auch diese zählen wohl oder übel zu dem in diesem Buch behandelten Korpus.

Positiv fällt auch auf, dass immer wieder ganz dezidiert – und das ist beileibe noch immer keine Selbstverständlichkeit in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen dieses Zuschnitts – auf Schriftstellerinnen (und auch Vertreterinnen respektive Vorkämpferinnen der Frauenbewegung) eingegangen wird. Stancic gelingt es so, bislang ignorierte oder vergessene Autorinnen und Denkerinnen wieder ins Bewusstsein zu rufen. Das reicht von sehr frühen Vordenkerinnen der Frauenliteratur des frühen 19. Jahrhunderts (Therese von Artner, Kitty Hofmann von Blei, S. 93ff.) über Milena Mrazovic Preindlsberger und Jelica Belovic-Bernadzikowska (S. 124ff.) bis zur bedeutenden Erzählerin und Ethnografin Mara Cop (S. 193ff.), zu Vilma von Vukelic (S. 203ff.), Božena Begovic oder Camilla Lucerna (S. 219ff.). Gerade hier, bei diesen vielen meist unbekannten Namen, sieht man, dass das enzyklopädische Sammeln, demgegenüber man in der Literaturwissenschaft gelernt hat – und dies zu Recht – misstrauisch zu sein, auch große Stärken hat: Man kann dieses Buch wie ein Nachschlagewerk benutzen, wie eine Landkarte, auf der man eine terra icognita entdecken kann.

Dass die interpretative Ebene bei dem ganzen Unterfangen ein wenig zu kurz kommt, ist der Autorin zuletzt anzulasten: Erstens liegt es am dezidiert enzyklopädischen Zuschnitt der Untersuchung, zweitens an der Tatsache, dass die in diesem Buch vorgestellten SchriftstellerInnen „nur sporadisch mit literarischen Texten von hoher ästhetischer Relevanz“ (S. 31) von sich reden gemacht haben, für eine genaue literarische Analyse der Werke also nicht allzu viel bieten, um es ein wenig salopp auszudrücken. Den bekannteren und literarisch herausragenden SchriftstellerInnen – Anastasius Grün, Alexander Roda Roda, Mara Cop, Murad Efendi et al. – widmet Stancic durchaus mehr Raum, aber auch die anderen werden, wenn auch sehr knapp, meist kritisch gewürdigt. Stancic enthält sich dabei durchaus nicht der literarischen Wertung und versucht, auch den weniger bekannten LiteratInnen gerecht zu werden.

Am Ende der Lektüre ist man zwar ein wenig ermattet, aber auch beeindruckt ob der detaillierten, präzisen und aufwändigen Recherchearbeit, der vielen hilfreichen Informationen (die bis zu Ausblicken in die Architektur reichen) und der gelungenen Darstellung des Ortes der deutschsprachigen Literatur und Kultur im Raum des ehemaligen Jugoslawien. Dass dieser Ort beileibe nicht immer positiv ausstrahlte, ist verständlich und wird von Stancic auch thematisiert: Das reicht von der illyrischen Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (die „für den ernsthaften Versuch einer kulturellen Neugründung einzelner südslawischer Völker, die im Habsburgerreich lebten“, steht (S. 98) und die sich von der deutschen Sprache und Kultur befreien wollte) über die Folgen der Politik der Habsburger-Monarchie auf dem Balkan und die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg (die neu gegründete oder vollkommen transformierte Staaten entstehen ließen, in denen die deutschsprachige Bevölkerung „praktisch über Nacht zur nationalen Minderheit degradiert“, S. 201, wurde) bis zur Okkupation durch die Nationalsozialisten 1941.
Stancic zeigt durchwegs, dass sie trotz der ein wenig additiv und summarisch wirkenden Schilderung über das nötige historische Bewusstsein verfügt, um die spezifischen Probleme in der Entwicklung des behandelten Untersuchungsraumes deutlich zu machen. Mit der Geschichte des Raumes sollte man allerdings vertraut sein, denn eine Darstellung der allgemeinen historischen Entwicklung kann in einer Literaturgeschichte, die 150 Jahre eines so komplexen geographischen Raumes zum Thema hat, klarerweise nicht geleistet werden – ist doch die literarische Entwicklung alleine fast zu komplex und zu heterogen, um in einem Buch behandelt werden zu können. Stancic schafft diese Herkules-Aufgabe jedoch, und dies auch dank der bio-bibliografischen Informationen zu den behandelten SchriftstellerInnen am Ende des Buches, wobei „[f]ür die Aufnahme der Autorinnen und Autoren […] Relevanz und eine gewisse Informationsdichte Voraussetzung“ waren (S. 280), also nicht alle Namen dort zu finden sind. Aber auch dazu ist zu sagen, dass eine vollständige Liste den Rahmen des Buches sprengen würde.

Das Einzige, was man vermisst: eine oder auch mehrere Landkarten zum Nachschauen, wo sich was (und wann genau) befindet. Oder sollte man einfach im Kopf haben, wo die alte Militärgrenze, Zivilkroatien, die Grafschaft der Sanegg, die Gottschee, die Batschka oder das Komitat Baranya zu finden sind? Verwirrend und verwickelt sind die Geschichte und die literarisch-kulturelle Entwicklung ja ohnehin. Aber das ist letztlich Erbsenzählerei …

Mirjana Stancic Verschüttete Literatur
Die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1800 bis 1945.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013.
335 S.; brosch.
ISBN 978-3-205-70460-8.

Rezension vom 01.09.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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