#Sachbuch

Gelesene Literatur

Carlos Spoerhase, Steffen Martus (Hg.)

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Die renommierte literaturwissenschaftliche Zeitschrift Text und Kritik lässt in einem Sonderband 21 AutorInnen über das Kulturgut Buch und die Sozialtechnik des Lesens „im Medienwandel“ nachdenken. Das Ergebnis im unbeirrbar beibehaltenen Format dieser Reihe signalisiert schon im Druckbild, dass die Lektüre wissenschaftlicher Aufsätze harte Arbeit bedeutet – nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch für die Augen. Dass einige Beiträge mit SW-Abbildungen aufgelockert werden, ändert nichts an der schweren Lesbarkeit der durchgängig sehr langen Anmerkungsapparate. Aber, und auch das gehört zur Tradition dieser Zeitschrift, die Lektüre ist der Mühe wert, oder im emphatischen Duktus der Buch-Bloggerszene, die viele der Beiträge beschäftigt, man kann daraus viel für sich mitnehmen.

Ausgangspunkt, so die beiden Herausgeber Steffen Martus und Carlos Spoerhase, war die 2018 im Auftrag des Börsenvereins des deutschen Buchhandels erstellte Studie Buchkäufer – Quo vadis?, die das Wegbrechen der Buchkäufer mit bislang „stabile[r] Lesebiografie“ (S. 7) konstatierte und seither die Buchbranche umtreibt. Ein Problem dabei ist die ungenaue Begrifflichkeit, was in den Debatten jeweils mit „Literatur“ und „Lesen“ konkret gemeint ist. In den Reaktionen der befragten Nicht-mehr-LeserInnen zeichnet sich jedenfalls ab, dass Lesen „als buchförmige Ablenkung von der alltäglichen digitalen Ablenkung verstanden'“ (S. 8) wird. Was aber bedeutet es, wenn „Literatur ein Teil der digitalen Populärkultur geworden ist“ (S. 9)?

Um dieser Frage nachzugehen, wählten die Herausgeber die begriffliche Klammer „Gelesene Literatur. Populäre Lektüre im Medienwandel“, mit den Themenfeldern Bestseller, Non-Book-Lesestoffe, Social Reading im Netz, Vertriebsstrategien, Kinder- und Jugendliteratur und das etwas uneindeutige letzte Kapitel mit dem Titel „Lesemoral der Gegenwart“. Gleich vorweg, was man unter diesen populären Lektüren nicht findet, ist das, was einem auf den ersten Blick vielleicht zuerst dazu einfällt: die Flut an Fantasybüchern und (Regional-)Kriminalromanen. Was man hingegen nicht mehr unbedingt unter diesem Themendach erwarten würde, wird sehr wohl abgehandelt: die „Leseuniversen der Groschenhefte“ (S. 83), auch wenn der Autorin Claudia Stockinger durchaus bewusst ist, dass nicht nur die KonsumentInnen der Heftroman-Serien, sondern das Format selbst eindeutig „in die Jahre gekommen“ (S. 91) ist.

Der Titel des ersten Abschnitts lautet „Bestsellererwartungen“ und eröffnet mit Christian Adams informativer Abhandlung zur Geschichte der Bestsellerlisten, von ihrem ersten Auftauchen im angloamerikanischen Raum 1894 bis zu rezenten Debatten um den hiesigen Platzhirsch dieses Formats im Spiegel, samt der Differenzierung in Best-, Long- und Steadyseller. Ein Klassiker für diese letzte Kategorie ist Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz. Das Buch erschien 1950, die Auflage beträgt bis heute etwa 6,5 Millionen. Der Autor gehörte mit rund 135.000 verkauften Exemplaren von Wind, Sand und Sterne überraschenderweise schon zu den „bestverkauften Büchern der Übersetzungsliteratur im ‚Dritten Reich'“ (S. 27). Auch das Fallbeispiel eines Longsellers, nämlich Max Frischs Homo Faber (Tobias Amslinger), wird vorgestellt, allerdings erst im vierten Abschnitt des Bandes.

Im ersten Abschnitt folgt Caspar Hirschis Analyse zum Thema „Große Männerbücher“. Gemeint sind damit populärwissenschaftliche Bücher von etablierten Akademikern. Ein Gendern ist hier kaum nötig, die Verfasser sind wie die Leser überwiegend Herren, die Themen „‚große Männer‘, ‚große Kriege‘ oder ‚das große Ganze'“ (S. 37). Sie erscheinen meist im Rahmen der zeitlich großzügig ausgedehnten „Jubiläumsbewirtschaftung“ (S. 38) der Verlage. „Ihre kommunikative Funktion gleicht jener von ‚coffee table books‘, nur wollen sie weniger durch Design und Illustrationen als durch Text und Thesen imponieren.“(S. 35) Das Werden eines Bestseller-Autors untersucht dann Mark-Georg Dehrmann am Beispiel von Dan Brown, dessen Markenzeichen, mit ausgedehnten „Fact-Paratexte[n]“ (S. 51) eine Vielzahl von Referenzeffekten zu bieten, eine eigene Fan-Gemeinde schuf.

Der Abschnitt „Literatur jenseits des Buches“ beschäftigt sich mit Songtexten (Philipp Böttcher), den erwähnten Groschenheften und dem jungen Phänomen der Graphic Novel (Charlotte Kurbjuhn), das überraschende Aspekte zu bieten hat. Etwa dass „[v]iele Graphic Novels nach literarischen Texten […] über Paratexte in barockem Umfang“ (S. 97) verfügen und konkrete Versuche gestartet wurden – etwa von David Zane Mairowitz und Robert Crumbs –, das Genre als „Philologie der Zukunft“ (S. 98) zu implementieren. Die Schwierigkeiten des Formats zeigen sich in den Handlungsanweisungen an den Buchhandel, auf welchem Regal und in welchem Umfeld diese Hybrid-Form am besten unterzubringen sei, um sie an die richtigen Interessenten zu bringen.

Der dritte Abschnitt „Digitale Leselust“ behandelt die (Bild-)Präsenz des Buches in den sozialen Netzwerken. Ute Schneider untersucht unter dem Titel „Bücher zeigen und Leseatmosphäre inszenieren – vom Habitus enthusastischer Leserinnen und Leser“ wie das Buch, das „niemals Leitmedium in der Populärkultur, sondern stets Leitmedium der Eliten'“ (S. 113) war, auf den Foren der Laien-KritikerInnen als emphatisches Objekt ins Bild gesetzt wird. Auch Erika Thomalla widmet sich der „Bücheremphase“ auf Rezensionsplattformen im Netz. Eine 2012 von Lovely-Books durchgeführte Studie zum Leseverhalten der „Vielleser und Multiplikatoren“, die mehr als 20 Bücher pro Jahr lesen und in den sozialen Medien über eine mehr oder minder hohe Reichweite verfügen, belegt: Die Akteure sind überwiegend Frauen (90 %) unter 30 Jahren (60 %) und pflegen einen „erstaunlich konservativen Mediengebrauch“ (S. 127), haben also eine absolute Präferenz für das gedruckte Buch und verproviantieren sich in der Buchhandlung vor Ort. Interessant wäre dabei die Frage gewesen, wie die in diesen Laienkritiken stets ausführlich miteinbezogene individuelle Lesesituation als Textstrategie mittlerweile in die professionelle Literaturkritik diffundiert ist. Zumindest angetippt wird schließlich in Stephan Porombkas Beitrag, was „Twitter Analytics“ über die Bewegungsmuster im Netz aussagt und welche Fragen sich daraus ergeben.

Das Kapitel „Agenten der Popularität“ beschäftigt sich mit der Problematik von „internationale(n) Lizenzvergaben und Weltrechten“ (Alexander Nebrig); Michael Schikowski zeigt die Bedeutung der „sprechenden Literaturkritik“ in der Kommunikationskette von Verlagen, Verlagsvertretern, BuchhändlerInnen und LeserInnen und zeigt auf, wie diese Tradition mündlicher Buchwerbung mit der bevorstehenden Umstellung auf elektronische Vorschauen und überwiegend digitale Kommunikationsstrukturen errodieren wird. Christoph Jürgensen untersucht Ästhetik und Funktionsweise von Buchtrailern und Jens-Christian Rabe demonstriert mit einiger Häme, wie ungeschickt die professionelle Literaturkritik auf Bestseller reagiert, denn „[h]interher gibt es natürlich einen Berichtszwang. Kein noch so vornehmes Feuilleton kann es sich heute noch kategorisch erlauben, außergewöhnlich erfolgreiche Bücher zu ignorieren“ (S. 197).

Mit Kindheitslektüren“ beschäftigt sich Julia Benner, über Rick Riordans Percy Jackson-Serien macht sich Kai Kauffmann Gedanken und Tilman Spreckelsen untersucht die Langzeitwirkung von Grimms Märchen im Werk von Cornelia Funke, Henning Ahrens und Karen Duve.

Der letzte Abschnitt untersucht die Rolle Navid Kermanis als „viel gelesene[r] Redner“ (Jörg Döring) und das schwierige Management zwischen „Lebenszeit und Lesezeit“ (Julika Griem), das sich bei den „dicken Gegenwartsromanen“ (S. 252) von Elena Ferrante, Karl Ove Knausgard, Zsuzsa Bánk und Hanya Yanagihara in besonderer Art und Weise stellt, auf Handlungsebene wie für die LeserInnen. Thomas Steinfeld befragt abschließend die Buchproduktion im Dienst der Selbstoptimierungsindustrie, ausgehend von den reichen Beständen dieses Genres in der Bibliothek, die David Foster Wallace hinterlassen hat.

Gerade diese Ratgeber-Ecke hätte ebenso wie die Regale mit Reiseführern und Kochbüchern zum Thema „Populäre Lektüre im Medienwandel“ vielleicht mehr Beachtung verdient. Ist es nicht dieses Segment, das mit besonderen Einbrüchen rechnen muss? Weshalb sollte jemand ein Buch zum Thema In 10 Schritten zum Erfolg oder … zur Idealfigur kaufen, oder eines mit Basicinfos zum nächsten Urlaubsziel, wenn das eine App auch bietet?

Carlos Spoerhase, Steffen Martus (Hg.) Gelesene Literatur
Populäre Lektüre im Zeichen des Medienwandels.
München: edition text + kritik, 2018.
(Sonderband. 12/18)
283 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 9783869167633.

Rezension vom 08.01.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.