Robert Sell hat sich in seiner Dissertation zu den drei Romanfragmenten Kafkas an einen Ratschlag von Walter Benjamin gehalten, wie man mit Kafkas Texten verfahren sollte: „Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mißtrauen muß man in ihrem Innern sich vorwärtstasten.“ (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II,2, S. 422) Benjamins Aufsatz über „Franz Kafka“ (1934) anlässlich des zehnten Todestages des Prager Dichters stellt ein hervorragendes Beispiel eines frühen interpretationskritischen Ansatzes dar. Darüber hinaus betont er als erster und zugleich auf markant präzise Weise die Bedeutung des gestischen Erzählens bei Kafka. Beide Aspekte stellen für Sells Arbeit entscheidende Bezugspunkte dar. Gegenstand seiner Untersuchung ist die hervorstechende Präsenz des Körpers bzw. von Körperlichkeit in Kafkas Romanwerk. Ohne dass es von Kafka eine explizite Poetik gäbe, lässt sich „in seinem Werk selbst“ eine „Poetologie des Körpers“ (S. 18), auffinden, zum einen als schriftstellerische Methode der Darstellung, zum anderen als Möglichkeiten der Auslegung verstanden. Die Vielschichtigkeit der Beschäftigung und die Schwierigkeit des Unterfangens hängen in einem nicht geringem Maße mit Kafkas Strategie des Fährtenlegens und Verwischens zusammen: ein bewusstes Spiel des Irreführens, das aber sein dekonstruktives Potential im Text selbst verankert.
In seinem Forschungsrückblick (der für eine wissenschaftliche Textsorte dieser Art von entsprechender Länge ist) problematisiert Sell daher jene Interpretationsansätze, die Kafkas Werk auf „ein Symbol der jeweiligen Zeitverhältnisse und Lebensumstände“ (S. 32) reduzieren. Dagegen bricht Kafkas Schreibstrategie vornehmlich mit solchen Konzepten, die traditionsgemäß mit Begriffen wie Symbol, Typus oder Metapher verbunden sind. Als tauglicher erweist sich der Begriff der Allegorie, in der poststrukturalistischen Literaturtheorie wieder aufgegriffen, oder eben der des Gestischen. Nach Sell kennzeichnet die Geste mehr als ein reines Erzählprinzip Kafkas spezifischen Schreibstil: „Über die Bewegung des Körpers drückt sie [die Geste; M.R.] die Bewegung des Schreibaktes und damit der Literatur selbst aus. Die Wörter bewegen sich im buchstäblichen Sinne. Sie verkörpern nicht nur mehr, sondern werden zum gleichen Teil verkörpert.“ (S. 109) Kafka selbst hat an dieses „poetologische Programm der Gesten“ gemäß einem Tagebucheintrag (1922) höchste Erwartungen geknüpft: „das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung […], indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird“ (S. 109). Indem die Gesten eigenen Bewegungsgesetzen folgen, widersetzen sie sich erfolgreich allen eindimensionalen Auslegungen.
Die offen widersprüchlichen Darstellungen von Gesten fast sämtlicher Figuren, die „gleitenden Paradoxe“ in der Körperdarstellung (nach einem Ausdruck von Gerhard Neumann) – so vermag Sells detaillierte Textanalyse aufzuzeigen – sind ins Auge springende Hilfsmittel dieser Schreibstrategie, die keiner Realistik in der Darstellung folgt. Wie die Figuren mit gekrümmten Rücken und auf die Brust geneigtem Kopf nur als herausragende Beispiele jener Gruppe deformierter Körper angehören, die sich den LeserInnen am nachdrücklichsten einprägen. „Es hat den Anschein, als verkörperten die vielen verunstalteten Romanfiguren die sprachliche Unzulänglichkeit, ihrer menschlichen Existenz einen Namen zu geben.“ (S. 172) Auf diese Weise gibt Kafka seinen Figuren als „versprachlichten Körpern“ (S. 193) ihre Deutungssetzungen selbst in die Hand. Freilich, festgelegte Bedeutungen sind dadurch gerade nicht mehr auszumachen, vielmehr hat sich der Sinn selbst in Bewegung gesetzt und bleibt in einem ständigen Prozess der Veränderung und Beugung.