#Sachbuch

Auf der Spur der Vergessenen

Uwe Schütte

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens.

„Die Archive des Schweigens“ als Fresko: mit dem Rekurs auf eine Maltechnik des Monumental-Beständigen versucht Uwe Schütte das (Lebens)Werk Gerhard Roths analytisch zu fassen. Gleich den einzelnen Tagwerken, gemalt auf feuchtem Putz, folgt er den sieben Büchern des ‚Zyklus‘ von ihren ersten Skizzen und Gravuren bis hin zum farbigen Epochenbild. Unter Zuhilfenahme von Werkzeugen unterschiedlicher Disziplinen (wie der Psychiatrie, Anthropologie, Philosophie, Soziologie und Historiografie) rekonstruiert Schütte anhand überraschender Details und aufschlußreicher Hinweise Roths vierzehnjährige Arbeit.

Schütte erschließt plausibel und einlässig die Genese eines Werkes, das erst in seiner Endform den Übertitel erhielt und auch nicht als Zyklus konzipiert war, sondern aus einer „Eigendynamik des Stoffes und Steuerung durch äußere Vorgaben“ (S. 17) entstand. Mit großer Sensibilität für das Zusammenspiel von Improvisation und Konzeption in Roths Schreiben folgt die Studie seinem künstlerischen Konzept als offenem Prozeß ohne Absolutheitsanspruch.

Schüttes Band orientiert sich an der endgültigen Anordnung der Einzelbände im Rothschen Zyklus, die nicht immer mit dem Erscheinungsdatum ident ist (Band 1: Im tiefen Österreich, 1990; Band 2: Der stille Ozean, 1980). Der chronologische Entstehungszusammenhang ist in der Analyse aber stets mitgezeichnet. In vier Großkapitel bündelt er die erste spezifisch dem Zyklus gewidmete Auseinandersetzung und gestaltet die Interpretationen als autonom lesbare Einzeluntersuchungen. Und gerade in dieser gelungenen Mischung aus Überblicks- und Einzelanalyse liegt das große Verdienst von Schüttes Studie innerhalb der Sekundärliteratur zu Gerhard Roth.

Unter dem Titel „In einer wildfremden Gegend“ (Teil eins) folgt Schütte Roths Wanderungen durch die Oststeiermark, wo er ab 1978 als freier Schriftsteller lebte. Im Bildtextband „Im tiefen Österreich“ wie im ‚Heimatroman‘ „Der stille Ozean“ steht Roth als Sammler und Archivar im Mittelpunkt: Sein Schreiben als Ringen um eine ‚Sozialgeschichte der Steiermark‘ (S. 33, 60), das – mit gesamtösterreichischer Erweiterung – in der Folge den ganzen Zyklus bestimmen wird.

Das zweite und umfangreichste Kapitel umkreist den ‚Bastler‘ Gerhard Roth in seinem Roman „Landläufiger Tod“ (1984). Zwischen der über Jahrzehnte aus zusammengetragenen Teilen gebauten ‚Weltmaschine‘ Franz Gsellmanns und der Romankonzeption bestehen inspirierende Parallelen: Roths Werk ist weniger von Handlungssträngen geprägt denn von drei Kernbereichen: Provinz, Geschichte und Wahnsinn, wobei die naturhistorische Dimension für „die innere Geschlossenheit des Textes“ (S. 112) sorgt. Entlang dieser Themenbreiche macht Schütte die Idee des bastlerischen Prinzips, die ‚bricolage‘ (Lévi-Strauss), das Zusammenfügen heterogener Teile zu einem Gefüge (S. 96) als ‚wildes Schreiben‘ sichtbar.

Als „Erzählerische Auswege“ (Teil drei) nach Exzentrik und Chaos (S. 205) und Verweigerung von Narrativität, interpretiert Schütte die zwei folgenden Bände „Am Abgrund“ (1986) und „Der Untersuchungsrichter“ (1988). Im allmählich gewachsenen Anspruch Roths, ein Psychogramm Österreichs zu erstellen, wird der Bereich des Städtischen als innovatives Element eingeführt, das sich allerdings an „klassischen Orten des Exterritorialen“: Bordell, Schlachthof, Irrenhaus (S. 220) konkretisiert.

Die beiden letzten Bände des ‚Zyklus‘ „Die Geschichte der Dunkelheit“ und „Eine Reise in das Innere von Wien“ (beide 1991), versteht Schütte in seinem Abschlußkapitel als Beiträge zur „Archäologie der österreichischen Geschichte“. Alle Handlungsstränge aus den ‚Archiven‘ werden hier wieder aufgenommen und miteinander verknüpft. Über die Lebensgeschichte eines Juden beziehungsweise die Beschreibung von Wiener Schauplätzen rundet sich so in Verknüpfung mit der österreichischen Geschichte das weit ausgreifende Psychogramm Österreichs ab. Damit war der Ruf Autors als unbequemer Mahner gefestigt, der sich immer wieder in aktuellen politischen Debatten und Auseinandersetzungen zu Wort meldet.

Schüttes interpretatorische Studie resümiert die Bedeutung des Rothschen ‚Zyklus‘ als konsequente und vielstimmige Ablehnung aller Strategien des Verdrängens in „Archive des Schweigens“: „Sein siebenbändiger Zyklus ist ein beeindruckendes Dokument des Widerstands gegen das Vergessen der Vergangenheit, gegen die subtilen Disziplinarstrukturen, welche die Gesellschaft durchdringen, gegen den Wahnsinn, den wir als Normalität zu akzeptieren und leben gezwungen sind.“ (S. 326)

Uwe Schütte Auf der Spur des Vergessenen
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 1997.
335 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-205-98712-8.

Rezension vom 14.08.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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