Quantitativ betrachtet ist Schlaffers Geschichte also nicht kurz, sondern dem behandelten Zeitraum durchaus angemessen. Irritierender freilich ist auf den ersten Blick Schlaffers inhaltliche Beobachtung, daß die deutsche Literatur ihre Höhepunkte von 1770 bis 1830 und von 1900 bis 1950 gehabt habe. Jene Werke, die davor, dazwischen und danach geschrieben wurden, ordnet der Autor unter philologische Rekonstruktion (vor 1750), Stagnation (1830 bis 1900) und Ende (nach 1950) der deutschen Literatur ein. Nimmt man Schlaffers Darstellung die polemische Spitze, die gegen die bisherigen Literaturgeschichten gerichtet ist, wird in seinen Ausführungen das alte Muster von Aufstieg, Blüte und Verfall der Literatur sichtbar.
Vorbereitet wird der rasante Streifzug durch 1000 Jahre deutschsprachige Literatur mit der Ausbreitung zweier theoretischer Voraussetzungen: Schlaffer reduziert seine Darstellung der deutschen Literatur methodisch auf jene Momente der Geistes-, Bildungs- und Sozialgeschichte, die „folgenreich“ (S. 17) für die deutsche Literatur waren. Seine Werkwahl aus dem Kanon der deutschen Literatur richtet sich weiters danach aus, inwiefern Werke der jeweiligen Epoche im Gedächtnis der Nachwelt überliefert und von den späteren Generationen auch gelesen wurden. Das heißt zum Beispiel, daß Wolframs „Parzival“ nicht in die Reihe jener Werke aufgenommen wird, aus denen die Geschichte der deutschen Literatur besteht, weil selbst dieses Werk „im Mittelalter nur wenigen bekannt“ war; vor allem hatte es kaum eine „Bedeutung für die spätere deutsche Literatur“ (S. 23). Deshalb beginnt die deutsche Literatur nach Schlaffer mit „Lessings Dramen, Goethes ‚Werther‘, einigen Gedichten Klopstocks, Bürgers, Claudius‘ und des jungen Goethes“ (S. 19) und läuft mit den Romantikern erstmals aus, um an der Jahrhundertwende mit Hofmannsthal, Kraus, Musil u.a. wieder einzusetzen und um 1950 restlos zu verschwinden.
Die Ergründung des Zusammenhangs zwischen epochaler Voraussetzung und Qualität der Dichtung qua Einzug ins kollektive Gedächtnis ist das erklärte Ziel von Schlaffers Unternehmen. Gesteuert wird der Blick auf die deutsche Literatur über die These, daß das jeweilige Verhältnis der Literatur zur Religion von entscheidender Bedeutung sei. Daß gleichsam die Religion, wie verwandelt sie auch immer in Bezug zur Literatur auftritt, jene Stelle in der Konzeption des literaturgeschichtlichen Narrativs einnimmt, wie in anderen Versuchen das Nationale oder das Soziale, ist die eigentliche theoretische Finte in Schlaffers Geschichte der deutschen Literatur. Sie alleine bietet dem Autor jenen systematischen Zusammenhalt, der es ihm erlaubt, seinen Text als Literaturgeschichte auszuweisen und nicht schlicht als sozialgeschichtliche Querschnittsanalyse zu präsentieren. Mit diesem theoretischen Schachzug sind die engen Grenzen gezogen und die Leistungen seines Projekts markiert. In der Vermengung von literaturhistorischer Geste und literaturwissenschaftlicher Durchdringung (Rezeptionsgeschichte auf der einen, sozial- und bildunggeschichtliche Aspekte auf der anderen Seite) und vor allem literaturwissenschaftlicher Darstellung des Materials liegt das eigentliche Problem des vorliegenden Textes deshalb begründet, weil er im Titel auf Literaturgeschichte abzielt, dieses Ziel aber auf literaturwissenschaftlichem Weg erreichen will. Seiner Leitthese wird zuviel geopfert, als daß aus den übriggebliebenen „heiligen“ Texten der deutschen Literatur tatsächlich eine Geschichte der Literatur entstehen könnte. Schlaffers These, daß bleibende, also nachhaltig wirkende Literatur aus dem Geiste des Protestantismus geboren wurde, kann er anhand der deutschen Klassik eindrücklich belegen. Weniger überzeugend wirkt die These, wenn sie auf katholische und jüdische Autoren um die Jahrhundertwende bezogen wird, weil diese in Aneignung und Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition analog zu den Protestanten behandelt werden.
„Die zweite Phase der deutschen Literatur, in der sie erneut zur Weltliteratur zählt, ist mit der ersten durch analoge Entstehungsbedingungen verbunden: Schwächung der überlieferten Religion, Teilhabe an der europäischen Aufklärung, Vertrauen auf die Autonomie einer europäischen Kultur, quasi-religiöse Begeisterung für die großen Werke der Kunst. Die leitenden Ideen des späten 18. Jahrhunderts sind geblieben, lediglich die konfessionelle Herkunft ihrer Träger hat im frühen 20. Jahrhundert gewechselt. Versteht man unter ‚deutsch‘ nicht eine ethnische Spezies, sondern eine kulturelle Prägung, so dürfen die emanzipierten Juden als die ernsthafteren Deutschen gelten. Mit ihrer Vertreibung und Vernichtung hat daher folgerichtig die deutsche Literatur ihren Rang eingebüßt und ihren Charakter verloren.“ (S. 139f.) Schlaffer kann so zwar ideengeschichtlich den retrospektiven Nachweis erbringen, warum Protestanten und später Katholiken und Juden literarische Höchstleistungen erbracht haben, wirklich überraschend – vor allem in literaturgeschichtlicher Hinsicht – ist diese Einsicht aber nun auch wieder nicht. Seine Methode ist weder zu einer weiteren Differenzierung geeignet, noch ist sie in der Lage, die Leistungen dieser Literatur darzustellen, geschweige denn jene feinen Unterschiede zu markieren, die zwischen den Autoren, die von Schlaffer als Kollektiv (die Juden, die Protestanten, die Katholiken) gesehen werden, festzustellen sind.
Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist dennoch ein anregendes und kurzweiliges Buch, das seinem Titel leider nicht gerecht wird. Ähnlich wie Peter Szondis „Versuch über das Tragische“ trägt Schlaffers brillant geschriebener Essay die Züge jener an Hegel geschulten Wissenschaftsprosa, die eine starke These ohne Rücksicht auf die Eigenheiten des Materials strikt durcharbeiten. Mit Verlust ist dabei zu rechnen. Und die Rede vom „Ende der deutschsprachigen Literatur“ erscheint mit Blick auf Hegel in anderem Licht. Während aber Szondi in seinem „Versuch“ die Grenzen selbst markierte, weitet Schlaffer in polemischer, gegen die Fachgermanistik gerichteter Absicht die Gültigkeit seines Textes auf Gebiete aus, die mit seiner wissenschaftlichen Methode und seiner religionssoziologischen Leitthese nicht zu erobern sind.