Christian Schärf ist von dieser Gefahr nicht bedroht. Er erfasst seinen Gegenstand mit sicherem und zugleich anspruchsvollem methodischem Griff. Für ihn ist die Geschichte des modernen Romans vor allem eine Abfolge individueller Schreibprojekte, die sich keiner Gattungstradition verpflichtet fühlen, sondern einzig ihrer je eigenen „idiosynkratischen Vorgabe“ gehorchen. Zu dieser „Vorgabe“ gehört jedoch auch der bewusste oder unbewusste Wunsch, einen Roman zu schreiben, und nicht etwa einen Essay oder ein Gedicht. Und mit ihm fließen die Konventionen und Ausdrucksmöglichkeiten des Genres eben doch in die Schreibvorgänge ein und beeinflussen in irgendeiner Form deren Richtung. Diesen Vorrat an Vorgegebenem, an dem sich jeder Autor aufs Neue abzuarbeiten hat, bezeichnet Schärf in der Terminologie Gérard Genettes als „Architext“. Und seine Geschichte des Romans verfolgt, welchen individuellen Ausformungen, Weiterentwicklungen, aber auch: welchen Verwerfungen dieser Architext im Lauf des 20. Jahrhunderts ausgesetzt war.
Es versteht sich, dass Schärf dabei nicht das gesamte Romanschaffen aller Länder und Jahrzehnte in den Blick nehmen kann. Jeder Versuch der Weltliteraturgeschichtsschreibung ertränke in Stofffülle, deshalb beschränkt sich Schärf auf die Autoren und Romane, die seine Theorie von der individuellen Arbeit am kollektiven Architext überzeugend illustrieren: Er beginnt mit Thomas und Heinrich Mann, deren Werke als späte, hoch artifizielle Abgesänge auf den „realistischen“ Roman im Geist des 19. Jahrhunderts aufgefasst werden. Im eindringlichsten Kapitel geht der Verfasser dann zu den literarischen Großprojekten der so genannten „klassischen Moderne“ über, die alle herkömmlichen Vorstellungen vom Romanschreiben überboten und revidierten.
Marcel Proust, Franz Kafka, Robert Walser, Robert Musil, James Joyce, Alfred Döblin heißen die Autoren, die hier vorgestellt werden. Bei allen Unterschieden, die Schärf keineswegs außer Acht lässt, haben diese Autoren eine grenzsprengende Schreibenergie gemeinsam, die über die Bestände des „Architextes“ weit hinausschießt. Schärf begreift diese enormen – oder wie er gerne sagt: diese „eminenten“ romanesken Gewaltakte von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über Prousts „Recherche“ bis zu Joyces „Ulysses“ als die genuin moderne Ausprägung der Romanform: In ihnen wird nichts geringeres versucht als die Hervorbringung eines Kunstuniversums, das sich an die Stelle der empirischen Welt setzt. Zwar räumt Schärf ein, dass Autoren wie Musil oder Joyce immer in der Gefahr schwebten, der Kunstform Roman allzu viel zuzutrauen bzw. zuzumuten. Doch hält er zugleich fest, dass „Intensiv-Romane“ wie der „Mann ohne Eigenschaften“ oder „Finnegans Wake“ die Vorstellungen vom Romanschreiben grundstürzend revolutioniert haben.
So konnte es nicht ausbleiben, dass diese Texte in den „Architext“ kommender Autorengenerationen eingingen – bzw. nach Schärfs Urteil hätten eingehen müssen. Die Geschichte des Romans in der zweiten Jahrhunderthälfte zerfällt für ihn in zwei Teile: Den französischen „Nouveau Roman“ und die Texte Samuel Becketts, aber auch Romane von Wolfgang Koeppen, Günter Grass und Thomas Bernhard versteht er als Versuche, die Möglichkeiten der „klassischen Moderne“ radikal weiterzuführen – wenn möglich bis an den Endpunkt des Verstummens oder der „Auslöschung“. Kritisch vermerkt er, dass dabei – vor allem im Umfeld des „Nouveau Roman“ – die Schreibflüsse ins allzu enge Bett dogmatisch angewandter Verfahren gelenkt worden seien. Schlimmer als diese Verengung erscheint ihm jedoch die „provinzielle“ Abkehr von der Modernität, die er im Umfeld der deutschen „Gruppe 47“ wahrnimmt. Autoren wie Heinrich Böll oder Siegfried Lenz zählen für Schärf genau besehen nicht zur Literatur des 20. Jahrhunderts, da ihr Schreiben von den Krisen der Moderne kaum bedroht, von ihren Möglichkeiten aber auch kaum bereichert sei. (Dasselbe gälte für ältere Romanerzähler wie Joseph Roth oder Leo Perutz, für die gediegenen Handwerker der englischen und amerikanischen Schule oder die weltweit populären lateinamerikanischen Epiker. Sie alle kommen in diesem Buch nicht oder nur in kritischen Fußnoten zur Sprache.)
Zum Schluss wirft Schärf noch einige – eher kursorische – Blicke auf die Romanliteratur, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren unter dem Zeichen der Postmoderne formiert hat. Mit Bezug auf Jorge Luis Borges, Thomas Pynchon, Umberto Eco, Italo Calvino und Gerold Späth als einzigem deutschsprachigem Autor skizziert Schärf den neuesten Umgang mit den alten Vorgaben: Parodierend und persiflierend nähere man sich dem „Architext“ der Romantradition, beziehe sich aber zugleich auf romanferne Texte, Genres und Medien, von denen die Meister der „klassischen“ Moderne noch wenig zu sagen wussten: Von der Werbung über Trivialgenres wie Western und Pornographie bis hin zum Fernsehen und dem Internet.
Welche Folgen diese neuen Medien für die schreiberischen Energien haben, die einst zu „Intensiv-Romanen“ führten, wagt Christian Schärf nicht zu prognostizieren. Immerhin konstatiert er eine Aufwertung der Unterhaltung und des Amüsements, die er als legitime Lesermotivation gelten lässt. Doch trägt diese Bemerkung eher den Charakter eines Zugeständnisses an neueste literaturtheoretische Positionen. Denn für den zentralen Kern seiner Argumentation ist es vollkommen belanglos, ob sich die Leserschaft amüsiert oder nicht. Ganz wie die Texte der „klassischen Moderne“, denen seine Hauptaufmerksamkeit gilt, konzentriert sich Schärf nicht auf die Interessen von Lesern, sondern auf die Schreibweisen von Autoren und deren textuelle Resultate. „Postmodern“ entspannte Leser mögen das ablehnen. Wer sich mit der „klassischen Moderne“ aber weiterhin beschäftigen will, findet in Christian Schärfs Buch einen in sich schlüssigen Zugang zu diesem „eminent“ komplexen Thema. Mehr wohl nicht, aber weniger auch nicht.