Dabei hat sich die Verfasserin eine weitreichende Aufgabe gestellt: Sie will das erzählende Prosawerk Frieds vorstellen, die Textgenese dokumentieren, zentrale Motive herausarbeiten, Bezüge zur Friedschen Lyrik und den Werken anderer Schriftsteller herstellen, die Texte gattungstheoretisch einordnen, Frieds Beziehung zum Judentum behandeln, die Motivation seines Schreibens erläutern etc. Dieses breite Spektrum ist zugleich Stärke und Schwäche des Buches. Denn zum einen ist es eine reiche Fundgrube für jeden, der sich mit Fried auseinandersetzen will, zum anderen eine oft unüberschaubare Aneinanderreihung unzähliger Fakten, Interpretationen und Gedanken der Autorin.
Die Grundlage der Untersuchung bildet die gesamte erzählende Prosa Erich Frieds. Berücksichtigt wurde auch der im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrte Nachlaß. Neben den veröffentlichten Werken, etwa dem Roman „Ein Soldat und ein Mädchen“ und Frieds autobiografischen Texten, erfährt man somit einiges über geplante Prosasammlungen, verstreute Skizzen und den Roman „Der Kulturstaat“, der 1937 entstand. Schon in diesem Jugendwerk finden sich die zentralen Themen der späteren schriftstellerischen Arbeit wieder, wenn auch in Form einer naiven gesellschaftspolitischen Utopie. Das diesem „Romanversuch“ (S. 65) vorangestellte Motto ,Glaube an eine bessere Zukunft / und kämpfe für sie / Dann wird / dann muss das Gute siegen!“(S. 54) ist ein rührendes Bekenntnis zum Humanismus, der im „Kulturstaat“ des damals 16jährigen Fried seine politische und gesellschaftliche Realisierung erfährt: Die Menschen leben in Frieden und Glück zusammen und sprechen Esperanto.
Die Realität sah freilich anders aus. Ein Jahr nach dem „Kulturstaat“ zwang der Nationalsozialismus den Juden Fried ins englische Exil. Eine Maxime seiner schriftstellerischen Arbeit lautete seit damals: „Ich will mich erinnern / an alles was man vergißt“ (S. 85). Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ,zwingt“ Fried zum Schreiben, und die Frage der Schuld wird zu einem zentralen Motiv, so etwa in dem Roman „Ein Soldat und ein Mädchen“. Neben dem Sich-Erinnern-Müssen, dem jüdischen „Zachor!“ („Erinnere Dich!“; S. 85), gibt es noch ein weiteres Charakteristikum des Friedschen Werkes, nämlich dessen „andere Seite“. Damit ist die Möglichkeit und die Notwendigkeit gemeint, Dinge von unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachten zu können: „Wenn man Menschen helfen will, ist Vorurteilslosigkeit das erste.“ (S. 153) Diese „Bereitschaft zur anderen Seite“ manifestiert sich im Werk vor allem in den zahlreichen Prosaarbeiten, die bekannte jüdisch-christliche Stoffe (Kain und Abel; Isaak; Georg, der Drachentöter) so umwandeln, daß neue Einsichten entstehen und der Leser zum Nach- und Umdenken angeregt wird. Diese Technik wird in dem Band ebenso anschaulich dokumentiert wie die jüdischen Elemente in Frieds Werk. Dazu zählen z. B. der jüdische Humor, der Spott, die Traumdeutung und das „verdeckte Wortspiel auf jüdisch-mystischer Basis“ (S. 202).
Man muß Erich Fried nicht zu einem jüdischen Gerechten, einem „Zaddik“, machen (wie dies Hans Mayer und die Verfasserin der Studie getan haben), um sein Engagement gebührend zu würdigen und seine Texte für lesenswert zu erachten. Daß man – neben seinen Gedichten – auch der Prosa einiges abgewinnen kann, beweist dieser Band über die „andere Seite“.