Helge Schalk bietet einen verblüffend präzisen, vollständigen und runden Überblick über die Stellung Umberto Ecos zum Stichwort „Interpretation“, einen Rückblick, der sich von dem frühen Text „Das offene Kunstwerk“ aus den 60er-Jahren über die wissenschaftliche Fundierung der dort genannten Thesen in den semiotischen Texten bis zu den textpragmatischen Arbeiten über die literarische Interpretation erstreckt: 30 Jahre Eco – stringent und sehr genau beschrieben. Leider fehlen die Beispiele im oben genannten Sinne, die es dem weniger eingearbeiteten Leser erlauben würden, sich im komplexen semiotischen Begriffsnetz zurechtzufinden: So half beispielsweise der Verweis „Vgl. das amüsante Beispiel in AT, 76-77“ (Fußnote 48, S. 166) dem Rezensenten im Zug zwischen Bregenz und Innsbruck leider wenig.
Trotz der drei unterscheidbaren Phasen Ecos (die Ästhetik der 60er Jahre, die Semiotik der 70er Jahre und die Romane sowie Texte zur Literatur aus den 80ern) wäre es wohl verfehlt, wie bei Wittgenstein beispielsweise von „Eco I“ oder „Eco III“ zu sprechen, denn – wie Schalk auch sehr treffend charakterisiert – Ecos Arbeiten bieten einen geschlossenen Bogen, den man kurz mit dem Versuch umschreiben könnte, die Mitarbeit des Lesers an der Interpretation mit den diese Mitarbeit auslösenden Strukturen des Textes zu verbinden. Diese Position machte Eco in den 60er-Jahren gegenüber dem damals vorherrschenden Strukturalismus – zumindest gegenüber dem orthodoxen Strukturalismus eines Lévi-Strauss – zum Revolutionär (auch wenn seine Semiotik in vielem mit strukturalistischen Positionen eines Roland Barthes oder Michel Foucault übereinstimmt), während in Zeiten ungezügelten Interpretierens im 20 Jahre später dominierenden Poststrukturalismus genau dieselbe Auffassung ihn beinahe schon ins konservative Eck stellt. Diesen geschlossenen Bogen sowohl für die Literaturwissenschaften, aber auch für die philosophische Ästhetik und die Erkenntnistheorie nachzuzeichnen, ist das Ziel Schalks, das in dieser Gesamtheit sowohl als neu wie auch als gelungen anzusehen ist. Daher ist das Buch durchaus als Überblick über das wissenschaftliche Gesamtwerk Umberto Ecos lesenswert und zu empfehlen.
Schalk trifft ein mehrfacher Verdienst: erstens die vielfältigen Verbindungen zur Phänomenologie, zur Hermeneutik und zur Semiotik (vor allem von Peirce) genauestens zu verfolgen (mit einer Fülle von Textverweisen, welche wertvolles und auch neues Hintergrundmaterial zu Eco bieten), zweitens den Kontext der Diskussion des Begriffs „Interpretation“ umfassend darzustellen und nicht zuletzt die bislang vernachlässigten Verbindungen zwischen Semiotik und Hermeneutik aufzuhellen.
Die einzelnen Schwächen, die der Rezensent zu finden glaubte, fallen ob des Gesamteindrucks wenig ins Gewicht: Daß Ecos Semiotik für eine „Logik der Kultur“ wichtig war, ist unbestritten. Aber doch scheint mir Schalk Ecos diesbezüglichen Beitrag zu überschätzen – gerade Roland Barthes beispielsweise, der hier m. E. wichtige Beiträge geleistet hat, wird von Schalk ganz ausgespart. Erstaunlich ist auch, daß der Diskursbegriff von Michel Foucault nicht ins Spiel kommt (wobei man zugestehen muß, daß Eco Foucault kaum erwähnt – und wenn, dann die Konzeption der „Ähnlichkeit“ in „Die Ordnung der Dinge“).
Schade ist, daß Schalk den Verbindungen zu John Deweys Erfahrungsbegriff nur eine Fußnote widmet (Eco selbst diskutiert Dewey ausführlicher), denn in dieser Verbindung scheint mir viel fruchtbares Neuland zu liegen: Dewey definiert Erfahrung als soziales Handeln und zieht Analogien zwischen ästhetischer und alltäglicher Erfahrung, scheint mir somit einigen wichtigen Anliegen Ecos vergleichbar zu sein, während der Erfahrungsbegriff der Phänomenologen (auf die Schalk wesentlich genauer eingeht) doch ein wenig leer und dem alltäglichen Denken sehr ferne wirkt.
Auch scheint mir die Nähe zwischen der „Offenheit“ bei Merleau-Ponty und der „Offenheit“ bei Eco nicht in dem Maße gegeben zu sein, wie Schalk sie beschreibt (S. 44ff.): Merleau-Pontys Position scheint mir – im Gegensatz zur Auffassung Ecos – von einer geschlossenen Struktur der Welt auszugehen, deren Sinn letzlich dunkel bleiben muß (der Sinn bleibt demnach offen, nicht aber die Strukturen der Welt), während für Eco der Sinn im Akt des Interpretierens von Welt entsteht und nur durch deren offene Struktur überhaupt möglich ist. Der wichtige Begriff des „Unsagbaren“ bei Merleau-Pontys spielt demnach in Ecos Semiotik auch keinerlei Rolle. Aber diese Mißlektüre (in den Augen des Rezensenten) müßte man der Gerechtigkeit wegen wohl eher Eco als Schalk anlasten, wie mir bei der Relektüre von „Das offene Kunstwerk“ auffiel. Ebenso verhält es sich mit der Tatsache, daß Eco/Schalk wenig zwischen all den verschiedenen Theorien und Theoretikern differenzieren, welche in diesem Falle alle in den postmodern-dekonstruktivistischen Topf geworfen werden.
Und daß Eco mit den Begriffen „offen“ und „geschlossen“ kein Werturteil verbinden würde (wie Schalk auf S. 17ff. behauptet), ist m. E. unrichtig, und Schalk selbst bietet einige Seiten später (S. 49ff.) auch eine deutlich andere Lektüre: Nur durch die Offenheit können wir kreativ (und aktiv) handeln, während uns das Geschlossene zum passiven Konsum degradiert.