#Sachbuch

Relative Realitäten

Christian Schad

// Rezension von Claudia Holly

Zwölf Jahre – von 1915 bis 1927 – zogen der bildende Künstler Christian Schad und der Dada-Philosoph Walter Serner gemeinsam durch ein krisengeschütteltes Europa. Zwölf Jahre – mit Unterbrechungen – währte ihre exklusive Freundschaft, die phasenweise auch als eine Menage à deux bezeichnet werden könnte. In Zürich liegt der Anfang einer Beziehung zwischen zwei großen Persönlichkeiten, die das Kunstgeschehen des beginnenden 20. Jahrhunderts, jeder auf seine Weise, maßgeblich beeinflußten; und mit einem Brief vom 13. Oktober 1927 (aus Genf) verabschiedet sich Dr. Serner aus dem Leben des Freundes, der bis zu seinem Tod im Jahre 1981 nicht erfahren konnte, wohin die Reise seines ehemaligen Kumpanen letzten Endes führte.

Christian Schad nähert sich in seinen Erinnerungen behutsam einer Vergangenheit, die – wie der Titel des Büchleins schon sagt – durch den Vorhang der Verklärung zu einer „relativen Realität“ wird. Zu recht moniert er: „Die Farbe fehlt, die Atmosphäre und vor allem die Potenz, Bäume ausreißen zu wollen und auch zu können. – Es fehlt die Fülle des Augenblicks!“ (S. 6) Nichtsdestotrotz vermögen Schads Rückblenden die Zeit in Zürich, Genf, Paris, Neapel und Berlin dem Leser sehr plastisch und atmosphärisch vor Augen zu führen. Anekdoten, kleine Abenteuer, gelegentlich auch „Trucs“, um mit Serner zu sprechen, lassen die vergangenen Tage in einer Lebendigkeit auferstehen, als wären sie für Schad erst gestern und nicht vor fünfzig Jahren passiert. Eindrücke von Menschen und Orten gerinnen zu Porträts abseits der gängigen Kunst- und Literaturgeschichte, auch wenn Schads Parteilichkeit Serner gegenüber manches Bild trübt, aber dazu später.

Wenn Serner in einem Sarkophag die hinterhältigen Machenschaften einer jungen Malerin gegen ihn belauscht, heimlicher Zeuge einer amourösen Szene zwischen dieser und Schad wird und dann plötzlich aus dem Mumiensarg steigt gleich einem Deus ex machina, dann fühlt man sich bei diesem Streich beinah an Wilhelm Busch erinnert; Szenen aus dem sinnlich geschilderten Neapel der zwanziger Jahre, mit Figuren, die einem Bild von George Grosz oder Otto Dix entstiegen sein könnten, nehmen den Leser ebenso ein wie allfällige Hintertüramouren Serners. Den Höhepunkt Sernerscher Manipulierkunst bilden aber seine zur Zeit der Genfer Dada-Aktionen lancierten Propagandaartikel in der Tagespresse: „Se non è vero, è ben trovato“.

Schad gibt des öfteren auch Hinweise auf reale Vorbilder für Serners literarisches Schaffen, so etwa auf „La Burgie“, eine Bartänzerin, die – laut Schad – das Modell für die Titelfigur des Romans „Die Tigerin“ abgegeben haben muß. Vor allem die Zeit in Neapel soll für Serner literarisch fruchtbar gewesen sein: Lebenskünstler aller Art waren prädestiniert, um in seinen Halbweltgeschichten tragende Rollen zu spielen.

Ein wesentlicher Teil des Büchleins widmet sich den Streitigkeiten rund um die Entstehung und Verbreitung des Dadaismus. Serner, einer der großen Kämpfer gegen Tradition und Gewohnheitsrecht, gegen Unaufrichtigkeit und Oberflächlichkeit, zählt zu den Gründungsvätern einer Kunstrichtung, deren zeitloses Dogma bis in unsere Tage reicht. Von seiner Anlage her war der Dadaismus wohl auch geeignet, Freundschaften auf eine harte Probe zu stellen. In Berlin stritt man sich um die Erfindung der Fotomontage, zwischen Zürich und Paris herrschte ein ständiger Wettkampf um die Veröffentlichung von Manifesten, um die Frage Plagiat oder Nicht-Plagiat. Den Wettlauf mit der Zeit mußte Serner gegen Tristan Tzara, der als Nicht-Deutscher über wesentlich bessere Ausgangsbedingungen verfügte, naturgemäß verlieren. Serners Aphorismen aus der „Letzten Lockerung“ waren in destillierter Form bereits 1918 von Tzara in Paris verbreitet worden, noch bevor Serner sein Manuskript verlegen lassen konnte. Tzaras Vormachtstellung im Kreis der französischen Dadaisten, seine Rolle als Usurpator fremder Ideen, wird von Schad detailliert geschildert. Seine Parteinahme für Serner äußert sich dann in einem Brief (1920), worin er Picabia von der Schmach Serners in Paris berichtet. Ein Brief, der – laut Schad – letztlich auch zum Bruch zwischen den Pariser Dadaisten führte.

Bettina Schad beleuchtet in ihrem Nachwort die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Erinnerungsbandes. Vor allem geht sie auf eine wesentliche Unstimmigkeit in der Werkchronologie ihres Mannes ein: die Schadographien sind demnach nicht 1918, sondern erst im Herbst 1919 „erfunden“ worden. Schad hat Überlieferung und Erinnerung zu einem Amalgam vermischt und so eine falsche Datierung mitübernommen.
Zuletzt dankt Bettina Schad dem Serner-Forscher Thomas Milch für seinen unermüdlichen Einsatz. Er war es auch, der den letzten Aufenthaltsort Walter Serners ausfindig gemacht, der seinen Tod im Konzentrationslager nachgewiesen hat.

Christian Schad Relative Realitäten
Erinnerungen um Walter Serner.
Augsburg: MaroVerlag, 1999.
121 S.; brosch.
ISBN 3-87512-661-0.

Rezension vom 09.07.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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