Die Sammlung von literarischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Beiträgen liest sich wie eine Annäherung an das Phänomen Walter Serner von zwei Seiten: zum einen soll der Aphoristiker der „Letzten Lockerung“ beleuchtet werden, zum anderen dessen Fähigkeit, die universellen Faustregeln der Hochstapelei in die Form einer „Liebesgeschichte“ („Die Tigerin“) zu gießen.
Den Anfang macht Jörg Drews, der seine „Fragmente eines Kommentars“ assoziativ in ausgewählte Paragraphen des „Handbreviers“ einschreibt. Die Fortführung Sernerscher Gedanken und Postulate läßt ihn haltmachen bei philosophiegeschichtlichen Meilensteinen wie de Sade, Nietzsche und Freud, zeitgenössische (dadaistische) und zeitlose Kunstauffassungen vergleichend heranzuziehen, um schließlich mit der Bemerkung zu enden, daß „Vorstehendes […] fortgesetzt werden [m u ß]“ (S. 20).
Franz Josef Czernin versucht, die Aphorismen der „Letzten Lockerung“ mit dem Umweg über die Wechselbeziehung von Paul Valérys „Cahiers“ und Bretons/Eluards Gegen-Aphorismen zu analysieren. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Wahrheit. Eine sprachphilosophische Problemstellung, die nicht zuletzt auf Wittgenstein zurückführt. Czernin erkennt in Serner letztlich einen „auf den grosstädtischen Asphalt heruntergekommene[n] Zarathustra, der, eben wie Nietzsche, die Idee der Wahrheit durch jene des Lebens zu ersetzen sucht“. (S. 25)
Nicht weniger interessant erscheint der von Angelika Klammer angestellte Vergleich des Sernerschen Anleitungskatalogs für Hochstapler mit dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden „Hand-Orakel“ des spanischen Jesuiten und Schriftstellers Baltasar Gracián. Auch hier ein zentraler Begriff: die „Ent-Täuschung“ (S. 31), wörtlich genommen eine Handlungsprämisse aus und durch Lebenspraxis. Aus ähnlichen Situationen heraus – Serners Gegenwart war die Kriegs- bzw. Zwischenkriegszeit, Graciáns Leben fiel ebenfalls in ein schlachtenreiches Jahrhundert – versuchen beide, (durch Macht gesteuerte) soziale Beziehungen zu hinterfragen und zu bekämpfen.
Ferdinand Schmatz verortet den Feuilletonisten und Kunstkritiker Serner innerhalb der zeitgenössischen bildnerischen und literarischen Strömungen als Anhänger Worringers, Nietzsches und (mit Einschränkungen) Kandinskys. Serners Romanhelden, fleischgewordene Aphorismen, widersprechen laut Schmatz aber gerade seiner Forderung nach reiner Emotion in der Kunst, nach dem neuen Sehen, das er zum Teil bei den Kubisten, nicht aber bei den Futuristen und Expressionisten bemerkt. Wirklichkeit (Einbeziehung der Produktionsverhältnisse) statt Geniebegriff und -verherrlichung – ein klassisches dadaistisches Dogma.
Jürgen Ritte, Sabine Kyora und Andreas Puff-Trojan widmen sich in ihren Beiträgen dem Prosastück „Die Tigerin“. Ein beinah belustigendes Detail kommt dabei zum Vorschein: Serners Eitelkeit in Sachen Originalität. Dem Vorwurf des sprachlichen und stilistischen Plagiats antwortet er mit an gekränkten Chauvinismus grenzenden Attacken auf die imperialistische Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland in Sachen Literatur und Kunst. Der historisch-biografische Hintergrund von Serner und seinem Kläger Paul Morand gibt dem Verwirrspiel Futter und läßt es zu einem „Preisrätsel für Einflußforscher“ (S. 56) werden. Ritte deckt insbesondere durch seine Analyse der Dialektverwendung in „Die Tigerin“ ein weiteres Puzzlestück hinsichtlich der Funktion der Sprache bei Serner auf.
Daran schließt Sabine Kyora an, indem sie die Sprachwerdung der Liebesproblematik zwischen Fec und Bichette thematisiert.
Eine differenzierte Fortsetzung des Vorworts unternimmt Andreas Puff-Trojan, der Autor von „Wien/Berlin/Dada. Reisen mit Dr. Serner“ (Wien, 1993). In Anlehnung an den Prolog des Handbreviers des katalanischen Adeligen Raimundus Lullus, der im 13. Jahrhundert einen Verhaltenskodex verfaßt hat, wird der „Glücksritter“ Sernerscher Prägung charakterisiert. Um ein „Glücksritter“ zu werden, sei demnach manchem geraten, den Schein zum Sein zu machen.
In der Textesammlung „Jelineks Wahl“ trifft man auf zwei Prosastücke aus der Feder Walter Serners: „Ich …“ und „Sein Truc“. „Ein Flaneur, der ins Gas gehen mußte, die größte denkbare Absurdität“ (S. 94), schreibt sie, die Dichterin mit Sympathie für Außenseiter und Vergessene, auch in der Einleitung zu „Jelineks Wahl IV“. Der Dandy und Flaneur Walter Serner hat ihre Sympathie – ohne Zweifel, nicht nur wegen seines Sprachmantels, einer Art Tarnkappe, über die er allein Kontrolle ausübt.
Eine Kontrolle, die ihn vor den Nazis leider nicht schützen konnte. Der Literaturwissenschaftler Thomas Milch hat Jahre seines Lebens dazu verwendet, die Rezeption Walter Serners wieder anzukurbeln bzw. sie überhaupt dingfest zu machen. Ihm ist der vorliegende Band gewidmet. Seine Studie zur Rezeption Walter Serners nach 1945 geht über in eine Bibliografie, deren Ausführlichkeit beeindruckt. Dank dieses aufopfernden Engagements kann nun auch jeder an Walter Serner Interessierte fundiert kommentierte Neueditionen zur Hand nehmen, um sich – unter anderem – zum Hochstaplertum verführen zu lassen.