Das Gros der auf die britische Insel geflohenen EmigrantInnen lebte in der damals weltgrößten Stadt London. Der Marbacher Germanist, Historiker und Journalist Steffen Pross hat nun versucht, durch vier Stadtspaziergänge die Wege von Exilanten und Exilantinnen, ihre Kreuzungspunkte, ihre Lebensbewältigung nachzuzeichnen: „zwischen Regent’s Park und Marble Arch“, „durch Bloomsbury nach Soho“, in „Hampstead“ und „rund um den Hyde Park“. Er bedient sich dabei des Ordnungsmusters einer Städtetopographie, um Lebensgeschichten zu rekonstruieren.
Der Band In London treffen wir uns wieder besticht durch seinen Materialreichtum. Die Verweise machen das dichte Netzwerk von deutschen und österreichischen Flüchtlingen deutlich, für die London Fluchtstation, Warteraum, kurzfristige oder dauerhafte Heimat bedeutete. Während Oskar Kokoschka und Ernst Julian Stern reüssierten, Elisabeth Bergner und Lili Palmer große Erfolge feierten, konnten Berthold Viertel, Jack Bilbo, Alfred Kerr, Walter Gropius und Kurt Weill beispielsweise nicht Fuß fassen. In seine Spaziergänge bindet Pross auch Geschichten über Institutionen, wie jener der Wiener und Warburg Library, des Austrian Centre, des Club 43 und des Warburg Institutes ein. Auch der Transport, der zehntausend jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich nach London in Sicherheit brachte, wird festgehalten. Die Einflüsse der kulturellen Produktion auf die Medien, auf die Unterhaltungsindustrie und im wissenschaftlichen Bereich werden gelegentlich – etwa in den Biographien Sigmund Freuds und Elisabeth Bergners – angedeutet. Welche Rolle Stefan Zweig beispielsweise für den Verlag Cassells spielte und welche Autoren er dem Verlag vermittelte, wird nicht erwähnt.
Positiv ist zu vermerken, dass Steffen Pross durch die Auswahl der Biografien nicht die „klassischen“ Zäsuren zwischen 1933 – 1945 verfestigt, sondern zeigt, dass Exilanten wie Peter Weiss London schon 1936 verließen, dass die Überlebenden des Konzentrationslagers Leo Baeck und H.G. Adler die britische Hauptstadt erst nach Kriegsende zur vorübergehenden bzw. dauernden Heimat wählten. An einigen Beispielen zeigt Pross Kontinuitäten auf, wie etwa an jenem des 1938 gegründeten German Service der BBC, das bis 1999 existieren konnte, bis es der britischen Sparpolitik zum Opfer fiel.
Die Idee, eine Mischung zwischen Lesebuch, informativer Lektüre zum deutschsprachigen Exil in London und einem Reiseführer zu bieten, ist zweifellos gut. Sie bietet auch die Möglichkeit, über fächerspezifische Grenzen hinweg eben ein Netzwerk von EmigrantInnen zu rekonstruieren, die unterschiedliche Sozialisation, Berufe und politische Anschauungen hatten, in dem sich SchriftstellerInnen, Geistes- und Naturwissenschafter, Künstler aus den verschiedensten Sparten bewegten und trafen. Da hier nicht nach fachspezifischen Ordnungskriterien, sondern nach städtetopographischen vorgegangen wird, erfordert diese Struktur eine Verankerung durch deutliche soziale, politische, symbolische Bezüge der EmigrantInnen zu ihren jeweiligen Wohnsitzen, um nicht zu einer beliebigen Aufzählung von biografischen Details zu geraten. Hier liegt zugleich der Schwachpunkt von Pross‘ Publikation. Die jeweilige, oft nur kurzzeitige Wohnadresse sowie der Sitz einer Organisation sind als zentrales Element des Aufbaus zu wenig. Dabei ist die Perspektive der Städtetopographie in der Exilforschung neu – wenn man über die rein geographische Verortung hinausgeht, ist sie gewiss von Erkenntnisinteresse. Mittels Topographien lassen sich nicht nur Netzwerke rekonstruieren, Kenntnisse über die soziale Lage gewinnen; Alltagstopographie lässt sich auch gut mit Mythen von Städten, mit ihrer Symbolik, mit ihren Monumenten verbinden, deren Symbolgehalt wiederum auf die Exilsituation oder das verlassene Heimatland hinweist – wie Hélène Roussel beispielsweise für Paris gezeigt hat. Parks, Hotels, Cafés sind wichtige Symbole einer Exilsituation, der Heimatlosigkeit, des Wartens; gerade letztere dienen als Beispiele moderner Mythologien. Pross deutet dies gelegentlich an, wenn er einleitend Parks treffend als „Schonräume“ bezeichnet, die Bedeutung der British Library als Bibliotheksersatz, neutralen Raum und Wohnzimmer für Flüchtlinge hervorhebt und die Cafeteria des German Service als Ersatz für das Berliner „Romanische Café“ und den Wiener „Herrenhof“ festhält.
Gerade in der Textproduktion von Schriftstellern, in den Produktionen von Künstlern lassen sich sicherlich diejenigen Stellen herausarbeiten, die eine psychologische, soziale, symbolische Verortung in Texten und künstlerischen Produktionen widerspiegeln und reflektieren, die beispielsweise deutlicher Verbindungen zu britischen Intellektuellen und Einbindungen in britische Netzwerke aufzeigen. Jedoch lässt Pross die von ihm porträtierten EmigrantInnen durch ihre Texte selbst kaum zu Wort kommen. Dabei hätte der in Marbach wohnende Autor vor Ort eine Fülle von Nachlässen und Teilsammlungen benützen können, die das Deutsche Literaturarchiv beherbergt (etwa von den Exillondonern H.G. Adler, Elias Canetti, Norbert Elias, Hans Flesch-Brunningen, Berthold Viertel und anderen ), die die textuale und bildliche Manifestation topographischer Elemente einzulösen vermocht hätten. Die Stadt als solche, die Charakteristika der beschriebenen Orte, ihre Rollen und Funktionen treten in der Publikation oftmals in den Hintergrund. Die Idee des Stadtspaziergangs wird zum Aufhänger reduziert; die Biographien, so spannend und beindruckend die einzelnen sind, wirken – auch durch die lineare Präsentation, die meist mit dem Tod des Porträtierten endet -, aneinandergereiht. Da sich Pross bei der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion vorwiegend auf Autobiographien stützt, ist zudem Vorsicht am Platz.
Pross betont im Vorwort seines Buches, dass er Vielfalt bieten, keine Vollständigkeit anstreben und die akademische mit der touristischen Seite zu verbinden trachte. Als Lesebuch für ExilforscherInnen sowie für eine interessierte Öffentlichkeit, das die bedeutende Rolle Londons als Exilmetropole hervorhebt, ist Pross‘ detaillreiche Porträtsammlung empfehlenswert; als Nachschlagewerk dient es begrenzt, als wissenschaftliches Werk sollte es allerdings nicht gelesen werden.