Marcus G. Patka porträtiert sie, ohne der Gefahr einer bloßen Aneinanderreihung von Biographien zu erliegen. Er bietet eine detaillierte, gut recherchierte Analyse, in der Lebensgeschichten etwa auch Teile von Institutionengeschichte sind. Im „Kulturbund“, im „Heinrich Heine Club“, im Verlag „El Libro Libre“ und in den Zeitschriften „Freies Deutschland“ und „Austria Libre“ fanden die EmigrantInnen Foren kultureller Ausdrucksmöglichkeit und politischer Diskussion (wie etwa über Faschismus- und Nationsdefinitionen). Als Akteure auf literarischem und politischem Parkett prägten sie Mexikos Position als bedeutendes Zentrum deutschsprachiger Exilliteratur und -politik. Patkas Buch macht auch den Transfer und die Transformation politischer Konzepte durch die Emigration deutlich, der Konflikte inhärent sind. Sie ergeben sich aus dem Aufeinanderprallen divergierender Vorstellungen sowie aus „revolutionärem Optimismus“, „Realitätsverdrängung“, aus der „Flucht in Orthodoxien“, genährt durch Existenzdruck und Profilierungswillen. Andererseits förderten Mehrfachidentitäten Konsensbereitschaft. So näherten sich unter dem Eindruck der Shoa beispielsweise deutschsprachige Kommunisten an das Judentum an.
Emigranten und Mexikos Intellektuelle (Frida Kahlo, Diego Rivera, Tina Modotti, José Vasconcelos) profitierten gegenseitig von der kulturellen Vielfalt des jeweiligen „Anderen“. So erklärte André Bréton das Land zum „surrealistischen Ort par excellence“. Fluchterfahrung, Internationalität, Interesse am „Fremden“, Zivilisationskritik und Exotik waren Inspiration für zahlreiche literarische Texte wie jene des mythenumwobenen und -webenden B. Traven („Der Schatz der Sierra Madre“), eines Egon Erwin Kisch („Entdeckungen in Mexiko“) sowie für wissenschaftliche Publikationen (so der Schweizerin Gertrude Düby über die indigene Bevölkerung). Daß Mexiko für zahlreiche EmigrantInnen nur vorläufiger Ruhepol einer Diaspora war, dokumentiert Patka, indem er frühere Fluchtorte und Endstationen thematisiert. Allerdings wird Frankreich – für einen Mexiko-Band – etwas zu viel Platz eingeräumt. Schockierend ist es, wie sich die Rückkehr in die vermeintliche Heimat der DDR etwa für Walter Janka und Paul Merker auswirkte. Sie bezahlten ihre Mehrfachidentität (Juden und Kommunisten) mit Gefängnis, Verfemung oder – im Falle von Otto Katz alias André Simone im antisemitischen Slánsky-Prozeß – mit dem Tod.
„Zu nahe der Sonne“ bietet ein wichtiges Beispiel für die Vielschichtigkeit einer Exilsituation, da es Marcus G. Patka gelingt, Biographie- und Institutionengeschichte zu verweben, Ideentransfer zu analysieren sowie Entstehungsbedingungen, Motivwahl und Rezeption von literarischen und wissenschaftlichen Werken vor dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten in Mexiko herauszuarbeiten und gut lesbar aufzubereiten. Miß- und unverständlich – gerade für die österreichische Rezeption des Bandes – ist jedoch, daß der Verlag sich nicht durchringen konnte, „deutsch“ durch „deutschsprachig“ zu ersetzen.