#Sachbuch

Lautpoesie/-musik nach 1945

Michael Lentz

// Rezension von Stefan Schwar

„fmsbwtözäu pggiv-..?mü“ ließ Raoul Hausmann 1918 in großen Lettern auf ein Plakat schreiben und lieferte damit einen wesentlichen Beitrag zu einer gänzlich neuen Art von Dichtung. Die prägende Bedeutung des Dadaismus auf die Geschichte der Lautdichtung ist unbestritten, ja mehr noch, beide Begriffe scheinen untrennbar miteinander verbunden zu sein, was der weiteren Entwicklung der Gattung nicht immer zum Vorteil gereicht. Auf die Tatsache, daß der reflexartige Rekurs auf den Dadaismus sogar zu einem historischen Irrtum werden kann – nämlich dann, wenn die substantiellen Veränderungen der Produktions- und Rezeptionsbedingungen durch die Verbreitung der audiovisuellen Medien nicht berücksichtigt werden – weist Michael Lentz in seiner umfassenden zweibändigen Studie zur Lautdichtung nach 1945 bereits am Anfang hin: „Das Lautgedicht ist nicht Dada“ (S. 97) lautet die pointierte Richtigstellung dieses literaturgeschichtlichen Erratums.

Lautdichtung will gehört werden, der audiologische Aspekt steht demnach auch im Zentrum der Untersuchung. Das „Primat der akustischen Realisation“ (S. 74ff.) hat auch erhebliche Konsequenzen auf die definitorische Abgrenzung des Themas: Die Untersuchung geht nicht von einer normativ-verabsolutierenden Definition aus, sondern orientiert sich an den zahlreichen individualästhetischen Ausdifferenzierungen eines meist hyperonym als Lautdichtung bezeichneten Phänomens. Unter diesem Aspekt und vor allem auch angesichts der überwältigenden Fülle des von Lentz in die Analyse miteinbezogenen Materials erscheint es sinnvoll, gar nicht erst den Versuch einer „Definition“ von Lautdichtung zu unternehmen, sondern stattdessen auf die Definitionsgeschichte zu verweisen (S. 38ff.), deren methodische Probleme und zum Teil auch inhaltliche Inkonsequenzen zweifelsohne den kritischen Blick auf das zu verhandelnde Thema schärfen. Dem dokumentarischen Anspruch wird die Arbeit in vollem Umfang gerecht: Lentz liefert nicht nur ein breites Spektrum an deutschsprachiger Lautpoesie, wie sie von Autoren wie Ernst Jandl, Ferdinand Kriwet, Franz Mon oder Carlfriedrich Claus hervorgebracht wurden, sondern geht ganz im Sinne der Internationalität der Entwicklung auch auf parallele Entwicklungen innerhalb Europas ein. Die Palette reicht dabei von Frankreich (Henri Chopin u. a.) und England (Bob Cobbing) über Italien (Arrigo Lora-Totino) und Rußland (Valeri Scherstjanoi) bis nach Belgien (Paul de Vree) und Schweden (Sten Hanson, Bengt Emil Johnson). Im zweiten Band finden sich in jeweils eigenen Kapiteln mit akribischer Präzision ausgearbeitete Einzelanalysen zu Paul de Vree, Bob Cobbing, Josef Anton Riedl – in dessen Ensemble Lentz seit 1989 selbst aktiv ist -, Gerhard Rühm, Franz Mon und Carlfriedrich Claus.

Eine beinahe eigenständige Untersuchung innerhalb der Arbeit stellt das große Kapitel über den (französischen) Lettrismus dar, dem in der bisherigen Forschung wenig Beachtung geschenkt wurde. Lentz stimmt dabei nicht a priori in die insgesamt eher negative Bewertung, die der Lettrismus vor allem seinem prophetischen wie megalomanen „Chef-Ideologen“ Isidore Isou zu verdanken hat, ein. Er widmet sich in gewohnt exakter Art und Weise zunächst der textkritischen Analyse der lettristischen „Bibel“, also Isous Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique, die er in seiner Zusatzfunktion als Übersetzer erstmals auch in deutscher Fassung zugänglich macht. Die profunde Theorieschwäche, die Isou in seiner Einführung in eine neue Poesie und eine neue Musik zu erkennen gibt und die sich etwa in der „verordneten Voraussetzungslosigkeit“ (S. 292f.), d. h. im bewußten Negieren von Strömungen mit ähnlich gelagerten künstlerisch-sozialen Interessen – Stichwort Dada – oder in der fundamental mißverstandenen Schönberg-Rezeption Isous manifestiert, führt auch bei Lentz zu einer eher kritisch-distanzierten Beurteilung des Lettrismus. Wesentliches Novum der Analyse ist jedoch die konsequente Miteinbeziehung des „lettrisme sonore“, also der lettristischen bzw. in weiterer Folge ultra-lettristischen akustischen Produktionen von Isidore Isou, Maurice Lemaître, Gabriel Pomerand bzw. Gil J. Wolman, François Dufrêne oder Jean-Louis Brau, in denen der Autor erhebliche Deviationen zur theoretischen Fundierung ausmacht.

Ein substantielles Problem, das jegliche Art von Lautpoesie/ -musik gleichermaßen betrifft, ist die Frage nach der adäquaten graphischen Notation, der auch ein umfangreiches Kapitel gewidmet ist. In diesem Zusammenhang stellt sich unter anderem die Frage nach der Eigen- bzw. Fremdinterpretation, also ob sprachakustische Arbeiten analog zur Musik, die prinzipiell auf Fremdinterpretation hin ausgelegt ist, auch durch andere Personen als den Autor interpretierbar sind oder ob Autor und Interpret idealiter eine Personalunion bilden sollten. Ersteres würde freilich ein international gültiges und konventionalisiertes Notationssystem voraussetzen, in Ermangelung dessen stößt man auf zum Teil überaus komplexe, an individuelle Vorstellungen geknüpfte Verschriftungsarten, welche aber eine Fremdinterpretation – Beispiel Gerhard Rühm – keinesfalls ausschließen. Dem dokumentarischen Charakter der Untersuchung entsprechend, liefert Lentz auch hier einen breiten Überblick über mögliche Notationsformen von Raoul Hausmanns typographischer Notation über das eher als Kuriosum zu bezeichnende, 159 Zeichen umfassende lettristische Alphabet bis zu Beispielen einer visuellen und akustischen Notation.

Michael Lentz hat eine hochspezialisierte, in Materialfülle und Detailtreue beeindruckende Arbeit vorgelegt, die durch ihren umfangreichen Anhang noch zusätzliches Gewicht bekommt. Dort finden sich nicht nur ausführliche Interviews mit Jaap Blonk, Bob Cobbing, Bernard Heidsieck, Maurice Lemaître, Arrigo Lora-Totino, Franz Mon, Oskar Pastior, Josef Anton Riedl, Gerhard Rühm, Valeri Scherstjanoi, Dieter Schnebel und Trevor Wishart, sondern auch zum Teil in deutscher Erstübersetzung vorliegende Manifeste und Deklarationen der Lautpoesie/ -musik nach 1945 sowie eine kleine Anthologie an Lautpoesie. Komplettiert wird dieses Maßstäbe setzende Standardwerk, das auch eine Fülle an Anregungen für weitere Arbeiten auf diesem Gebiet bereitstellt, durch eine umfangreiche Bibliographie, Discographie und Filmographie.

Michael Lentz Lautpoesie/-musik nach 1945
Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme.
2 Bände.
Wien: Edition Selene, 2000.
1240 S.; geb.
ISBN 3-85266-100-5.

Rezension vom 28.03.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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