#Sachbuch

Kleine Geschichte des Hörspiels

Hans-Jürgen Krug

// Rezension von Kurt Bartsch

Das Hörspiel, die genuin radiophone unter den literarischen Gattungen, ist eine vergleichsweise sehr junge Erscheinung. Nichtsdestoweniger hat sie in den nur etwas mehr als acht Jahrzehnten Rundfunkgeschichte unterschiedlichste ästhetische Wege beschritten, und zwar aufgrund des raschen Wandels der technischen Gestaltungsmittel und der wesentlichen Veränderungen der medialen Bedingungen in diesem Zeitraum.

Die Bandbreite dessen, was seit den Anfängen, in denen man noch ohne Aufzeichnungsapparaturen und daher auch ohne die Möglichkeiten der Montagetechnik auskommen musste oder in denen man sich, naturalistischer“ Logik folgend, bemüßigt fühlte, die totale Abstraktion von allem Visuellen in Funkstücken zu begründen (und daher etwa den Stollen eines Bergwerks oder ein U-Boot bei Stromausfall als Spielort auszuwählen), bis in die unmittelbare Gegenwart mit ihren intermedialen, die technischen Möglichkeiten des Computers und der Digitalisierung voll ausschöpfenden Versuchen, ist enorm und in einer „kleinen Geschichte des Hörspiels“ deswegen kaum fassbar.
Vorweg kann gesagt werden: es ist in der vorliegenden Darstellung auch nur unzureichend gelungen. Allerdings auch vorweg wäre der Mut des Verfassers positiv zu vermerken, in Zeiten beinahe brachliegender Hörspielforschung ein solch weit gespanntes Unterfangen überhaupt in Angriff zu nehmen und bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahrs 2008 heraufzuführen.

Das Hörspiel musste von Anbeginn um seinen Platz sowohl im System der literarischen Gattungen als auch um den in den Programmleisten der (vorerst durchwegs öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalten kämpfen, in den ersten Jahren nach dem Start 1924 vor allem um ästhetische Orientierung, in der NS-Zeit um einen Freiraum jenseits politischer Funktionalisierung, nach einer Blütezeit in den Nachkriegsjahren ab den fünfziger Jahren um Hörer, zuerst im Schatten des neuen Mediums Fernsehen, neuerdings nach dem Verlust der Monopolstellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Konkurrenz zu Internet und Hörbüchern. Diese sind zwar, so Krug zurecht dezidiert, keinesfalls gleichzusetzen mit Hörspiel, ja dieses macht nur einen geringen Prozentsatz unter den Hörbüchern aus. Immerhin ist aber deren Erfolg ein Beweis dafür, dass es nach wie vor ein Publikum für Hörereignisse, mithin auch für Hörspiele gibt.

In den ersten zehn Jahren bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland brachte das Hörspiel schon erstaunlich viele Ansätze hervor, von neusachlich reportagehaften Produkten, über Geräuschkompositionen (sehr verdienstvoll Krugs Hinweis auf das so gut wie vergessene, durch den virtuosen Einsatz der akustischen Ausdrucksmittel spätere Entwicklungen vorwegnehmende Hörspiel Der Narr mit der Hacke von Eduard Reinacher, 1930 in Köln urgesendet) bis hin zu den (in der vorliegenden Arbeit kaum berücksichtigten) Versuchen eines Walter Benjamin und vor allem eines Bertolt Brecht, der mit der Forderung nach dem Rundfunk als einem Kommunikations- und nicht nur Distributionsapparat seine Wirkung getan hat und tut bis zu den O(riginal)-Ton-Hörspielen der siebziger Jahre, ja, zumindest vermittelt, bis hin zu den aktuellen intermedialen und interaktiven Höreignissen. Bei den frühen Bemühungen um eine eigene Hörspielästhetik gab es – und das wird von Krug sehr nachdrücklich hervorgehoben – deutliche regionale Schwerpunksetzungen.
Diesen widmet der Verfasser auch in der weiteren Geschichte des Hörspiels in Deutschland seine Aufmerksamkeit, allerdings nicht immer in der übersichtlichen Weise wie im Kapitel über die Anfänge zwischen 1924 und 1929. In der Phase des Neuen Hörspiels der sechziger und siebziger Jahre wird er zwar in den allgemeinen Ausführungen der Bedeutung des Hörspielstudios des WDR III, dem Mekka des experimentellen Hörspiels, implizit gerecht, in der Auflistung der regionalen Schwerpunkte wird dieser Sender aber nicht mehr angeführt, wodurch ein direkter Vergleich ausgeblendet bleibt und diese Aufstellung an Aussagekraft verliert. Immerhin verdankt sich der Berücksichtigung des Regionalen die Einsicht in die Verdienste einzelner Rundfunkstationen in den verschiedenen Phasen der Hörspielentwicklung, so etwa in die Bedeutung des in jüngster Zeit besonders ambitionierten Bayrischen Rundfunks.

Nicht ganz nachvollziehbar sind die Kriterien, die Krugs Periodisierungskonstrukt zugrunde liegen. Einen ersten Einschnitt 1929 zu setzen, ließe sich sehr gut begründen mit der in diesem Jahr erfolgten Ursendung herausragender Hörspielproduktionen (des meistgespielten Funkstücks der Zeit vor 1933, der Brigadevermittlung von Ernst Johannsen, oder des ersten intermedialen Versuchs mit Brechts Lindberghflug beim Baden-Badener Musikfestival) oder auch mit besonders intensiven theoretischen Bemühungen (prominent besetzte Hörspieltagung in Kassel 1929). Aber eine Periode von 1929 bis 1968 (wäre die Hälfte der gesamten Hörspielgeschichte) anzusetzen, lässt sich nicht argumentieren und wird auch nicht ansatzweise argumentiert.
Die Einschnitte 1933 sowie 1945 dürfen trotz unleugbarer Kontinuitäten über die Nazizeit hinweg nicht eingeebnet werden: So wirkt zwar der die Innerlichkeit betonende theoretische Ansatz von Richard Kolb weiter, aber im Dritten Reich ist doch ein (von Krug kaum beachteter) Hermann Pongs wichtiger, weil politisch besser instrumentierbar.
Und mit 1968 den Beginn des experimentellen, sogenannten „Neuen Hörspiels“ anzusetzen, ließe sich zwar begründen mit dem Erfolg der Ursendung von Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Fünf Mann Menschen, das diese experimentelle Spielart des Genres (durch den Gewinn des Hörspielpreises der Kriegsblinden) gewissermaßen nobilitierte, Krug selbst aber verweist auf das bereits 1963 urgesendete Funkstück Das Geräusch von Ludwig Harig, das eine der Grundforderungen des Neuen Hörspiels erfüllt, nämlich die Enthierarchisierung der akustischen Ausdrucksmittel Sprache, Geräusche, Musik, in diesem Fall, dem Titel entsprechend, zugunsten des Geräuschs. Und dem folgen weitere durch den Stuttgarter Kreis um Max Bense und Reinhard Döhl angeregte Experimente.
Befremdlich im übrigen auch, dass die heftig diskutierte zentrale Forderung Friedrich Knillis nach einem „totalen Schallspiel“ aus seinem Hörspielbuch von 1961 von Krug im Zusammenhang mit den Hörspielbemühungen der 1960er Jahre unerwähnt bleibt. Und das, obwohl dem Postulat Knillis nicht nur Harig, sondern später etwa auch ein Peter Handke mit Geräusch eines Geräuschs oder ein Gerhard Rühm in zahlreichen Hörspielproduktionen mehr oder weniger folgten.

Das genannte Manko hat damit zu tun, dass in Krugs Ausführungen die ästhetischen Entwicklungen des Hörspiels zu kurz kommen. Es ließen sich noch eine Reihe von Defiziten anführen. Hinzuweisen wäre darauf, dass Entwicklung und Bedeutung des Hörspiels in der DDR kaum, in Österreich und in der Schweiz so gut wie nicht berücksichtigt werden, dass Krug Listen von Regisseuren, Komponisten und Schauspielern anführt, ohne auf die Leistung einzelner einzugehen: So würde man beispielsweise nicht ungern erfahren, was denn das Besondere der von Christoph Schlingensief produzierten Hörwerke ausmacht oder welche Bedeutung dem schon erwähnten, bei Krug fast verschwiegenen Gerhard Rühm, einer vor allem mit dem WDR unter Klaus Schöning zusammenarbeitenden, herausragenden Persönlichkeit in der Geschichte des Neuen Hörspiels, zukommt.
Krug bietet viele Fakten, zu viele, die man sich ohnehin zum Großteil ohne besondere Mühe aus dem Internet besorgen könnte, bewältigt die Informationsfülle in seiner Darstellung aber nicht so, dass Übersicht und Einsichten gewonnen werden könnten.

Dazu schleichen sich Fehler ein, die in einer zweiten Auflage doch getilgt sein sollten: Bachmanns erstes Hörspiel heißt Ein Geschäft mit Träumen und nicht Geschenk, und Manhattan schreibt auch diese Autorin nicht als Manhatten, Gerhard Rentzschs Hörspiel heißt Altweibersommer und nicht Albweibersommer … Dass auch einige Zitate nicht eindeutig ausgewiesen beziehungsweise ungenau sind, rundet das Bild ab.

Hans-Jürgen Krug Kleine Geschichte des Hörspiels
Sachbuch.
Konstanz: UVK, 2008.
2., überarb. und erw. Aufl.
200 S.; brosch.
ISBN 3-86764-076-3.

Rezension vom 14.01.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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