Der neue Band Nr. 16 ist dem Bereich Exil und Avantgarden gewidmet und bleibt der interdisziplinären Ausrichtung des Jahrbuches verpflichtet: Nicht nur die Avantgarde der Literatur oder der Malerei wird berücksichtigt, sondern auch diejenige des Films, der Sexualwissenschaft und der Sexualpädagogik. Die Aufsätze beschreiben die Veränderungen, die sich für die Avantgarden aufgrund der Exilsituation und der geänderten Produktionsbedingungen ergaben. War es für die meisten der avantgardistischen Künstler und Wissenschaftler schon in den 20er Jahren in ihrem Heimatland schwer, befriedigende Produktionsbedingungen zu finden, verschlechterten sich diese mit der Exilsituation meist dramatisch. Neben den Schwierigkeiten der Assimilation an neue Lebensverhältnisse war es vor allem die – vom künstlerischen Standpunkt her – häufig ablehnende Haltung der Exilländer, die eine avantgardistische Produktion erschwerte. Nur den wenigsten gelang daher eine kontinuierliche avantgardistische Arbeit während der Jahre 1933-45.
Dennoch ist es verfehlt zu glauben, die Avantgarden seien im Exil in jedem Fall zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Beiträge des Jahrbuchs zeigen die unterschiedlichsten Entwicklungsrichtungen auf. Oskar Fischinger, der 1936 in die USA emigrierte, konnte mit seiner abstrakten Filmkunst weder bei Paramount noch bei Walt Disney Fuß fassen, arbeitete während des Krieges unter erbärmlichen Bedingungen dennoch kompromißlos weiter und wurde erst nach 1945 zu einem anerkannten Anreger der neuen amerikanischen Filmavantgarde. Sein Beispiel dokumentiert die Schwierigkeiten der Migranten in den Vereinigten Staaten, wo man künstlerischen Avantgarde-Bewegungen meist mit Mißtrauen oder Unverständnis begegnete.
Walter Benjamin wiederum findet sich in Paris als Literaturkritiker in einer isolierten Position wieder: „Wo Benjamins eingesandte Schriften überhaupt auf eine Veröffentlichungschance stießen, zeugen die überlieferten Dokumente ohne Ausnahme von erzwungener Rücksichtnahme, Änderungswünschen, Änderungen und Kürzungen mit und ohne Zustimmung des Autors.“ (S. 70) Zu groß waren die ideologischen Differenzen zwischen dem Kritiker Benjamin, „der mit der säkularisierten Geschichtsteleologie und ihren auf Totalität zielenden Versöhnungsangeboten bricht“ (S. 8) und einer linken Publizistik, die zunehmend stalinistischem Druck ausgesetzt ist. Die „Ortlosigkeit von Benjamins kritischem Standpunkt“ (S. 75) und seine Hinwendung zu einem in jüdischer Theologie wurzelnden Messianismus führten dazu, daß seine letzten Werke selbst nach dem Krieg noch zumeist auf Ablehnung stießen. Die Schwierigkeiten, parteikonformes sozialistisches Engagement und künstlerische Avantgarde im Exil zu verbinden, begegnen einem auch bei Bertolt Brecht und Anna Seghers. Seghers „kämpfte“ mit der Redaktion der Moskauer Literaturzeitschrift „Das Wort“ um ihre avantgardistische Position: „Der Wirklichkeit einer Krisenzeit ins Auge zu sehen und sie zu gestalten, bringe Stilbrüche, Experimente und Mischformen hervor.“ (S. 99) Für die sozialistischen Ideologen um Georg Lukács war diese Position dekadent und marginal. Für Seghers stellte sie den „heftigen Versuch eines neuen Inhalts“ (ebd.) dar.
Ganz andere Probleme hatte die Avantgarde der (Sexual-)Wissenschaft in Israel zu bewältigen. Zunächst waren die Sprachschwierigkeiten um einiges gravierender als etwa in den USA, außerdem gab es keine gesellschaftliche „Basis, von der sie [die Sexualwissenschaftler] sich hätten absetzen können, […] die Gesellschaft, in der sie ihre Reformvorstellungen entwickelt hatten, war untergegangen. In der neu entstehenden Gesellschaft war Theorie kaum gefragt, eher Hilfestellung auf dem Weg der Verwirklichung. Wer angekommen war und bleiben wollte, mußte sich neu orientieren. Die ‚Avantgarde‘ war herausgefordert.“ (S. 247f.) Deren Vertreter mußten sowohl konkrete, häufig auch handwerkliche Arbeit leisten als auch – gegenüber dem zionistischen mainstream – die Unentbehrlichkeit bürgerlicher Einwandererkreise für den Aufbau eines modernen Staates unter Beweis stellen. Die wissenschaftlichen Erfahrungen aus den Heimatländern konnten meist erst nach dem Krieg in die neue Gesellschaft eingebracht werden.
Daß sich Avantgarde aber auch erst im Exil richtig entwickeln kann, davon erzählt das Schicksal des Werbegraphikers Richard Lindner, der in den USA zur Malerei fand und heute als „solitärer Vorläufer der Pop Art“ (S. 45) angesehen wird. Er selbst sah sich als „Berufsemigranten“, als einen, der nirgends eine Heimat hat und für den Exil „eine Haltung, einen Standpunkt gegenüber der Welt“ (S. 45) bedeutet. Dies mag für viele Emigranten gelten; gerade auch für diejenigen, die es als Avantgardisten im Exil besonders schwer hatten.