Es vereint auf 1356 Seiten die Arbeiten von über 80 namhaften Exilforschern aus zwölf verschiedenen Ländern, die sich intensiv, wissenschaftlich und doch für jederman verständlich formuliert mit einem der dunkelsten Zeitabschnitte unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts beschäftigt haben: Der Zeit des Hitlerfaschismus 1933 bis 1945 und den dadurch ausgelösten Exodus Tausender, die sich diesem Terrorregime nicht unterworfen haben, sich ihm nicht andienen wollten, die viele Jahre wahrlich „Unter fremden Himmeln“ (F. C. Weiskopf) zu leben und zu arbeiten gezwungen waren.
Das Buch erscheint zudem in einer Zeit, in der es um das Thema der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 stiller geworden ist. Die teilweise auch unkritische Euphorie der Jahre nach 1968 ist weitgehend abgeklungen. Heute herrscht eine eher stille und sehr nachdenkliche Diskussion vor, die auch in Kontroversen ausgetragen wird und Grundsätzliches berührt. Drei Themenbereiche, die sich ergänzen ließen, sollen genannt werden: Wie soll und muss die Exilforschung heute mit einem Zentralbegriff der Exilzeit wie dem des „Antifaschismus“ umgehen? Wie müssen die Forschungen und Forschungsergebnisse der DDR-Exilforschung bewertet werden? Wie kann es gelingen, die Rolle der Frauen im Exil in das Gesamtgefüge umfassend und wahrheitsgetreu einzufügen?
Es wurden und werden im Umkreis damit befasster wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen (auch hier ist bedauerlicherweise eine zunehmende Zersplitterung zu beklagen) immer wieder teilweise erschütternde Einzel- und auch Gruppenschicksale erforscht und präsentiert, Zusammenhänge übergreifend neu entdeckt, beschrieben und wissenschaftlich ausgelotet, der Blick auf diesen Abschnitt deutscher Geschichte damit insgesamt geschärft und vertieft. Ein Beispiel mag als Beleg dienen: Die Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“ der Gesellschaft für Exilforschung hat im Rahmen ihrer Tagungen und darüber hinaus Forschungsergebnisse vorzuweisen und in die Diskussion eingebracht, die von unschätzbarer Bedeutung für das Zusammenfügen eines Gesamtbildes der deutschsprachigen Emigration 1933 bis 1945 geworden sind.
Unbestritten verdienstvoll sind und bleiben auch die in der Vergangenheit immer wieder vorgelegten Gesamtdarstellungen des Exil 1933 bis 1945. Sie beschränkten sich aber in der Regel auf die Darstellung einzelner Aspekte oder Ausschnitte aus der breitgefächerten Emigration, etwa auf die literarische, die wissenschaftliche, politische oder künstlerische Emigration. Andere Versuche einer Gesamtdarstellung nutzten die Zufluchtsländer als Struktur- und Gliederungsschemata. Wieder andere beschäftigten sich exemplarisch mit Exil-Romanen, mit dem Exil-Theater, mit der Exil-Lyrik oder dem Exil-Film.
Dennoch ist die Feststellung geboten: Es mangelte in der Vergangenheit an einer tatsächlichen Gesamtdarstellung der deutschsprachigen Emigration, die der Forderung entsprechen konnte, alle relevanten Aspekte und alle bis heute erarbeiteten Forschungsergebnisse zu diesem Gegenstand, die in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik und der DDR aber auch in anderen Ländem wie in Frankreich, den skandinavischen Ländern und den USA vorgelegt wurden, zusammengefügt hätte. Es mangelte – kurz gesprochen – an einer zusammenfassenden Übersicht zu diesem Thema, die den neuesten Forschungsstand umfassend widerspiegelt.
Um ein solches Gesamtbild in einem neuen Gliederungs- und Strukturschema ging und geht es den Herausgebem des vorgelegten Handbuches der deutschspachigen Emigration. Dieser Anspruch wurde mit dem vorliegenden Werk eingelöst. Den Herausgebern ist in der Feststellung uneingeschränkt zuzustimmen, nach der „dieses Handbuch den ersten Gesamtüberblick zur deutschsprachigen Emigration nach 1933“ bietet.
Der Anspruch lässt sich belegen: Auf den 1356 Seiten werden fundiert alle Aspekte des Themas behandelt: Anlässe, Rahmenbedingungen und lebensweltliche Aspekte sind ebenso danunter wie die Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil, das politische Exil und der Widerstand aus dem Exil, die Wissenschaftsemigration sowie das literarische und künstlerische Exil.
Hervorzuheben ist das VI. Kapitel, das sich mit Fragen der Rückkehr aus dem Exil und der Rezeptionsgeschichte beschäftigt, ein sehr ehrliches und spannendes Kapitel. Es behandelt einen Abschnitt deutscher Geschichte, der in der Vergangenheit oft – zu oft – ausgeblendet oder zu kurzatmig behandelt und häufig zu vordergründigen politischen Zwecken missbraucht wurde.
Die Herausgeber haben im Vorfeld der Planungen zu diesem ambitiösen Projekt sich selbst und den Autorinnen und Autoren einige strenge Bedingungen gestellt, die mit kleineren unbedeutenden Ausnahmen eingehalten worden sind:
1.Die Sprache ist auch für ein nichtwissenschaftliches Lesepublikum verständlich, ohne dass die Wissenschaftlichkeit der Beiträge darunter leidet.
2.Kein Beitrag überschreitet zwanzig Seiten.
3.Das Literaturverzeichnis am Ende eines jeden Beitrags beschränkt sich auf wirklich wichtige Hinweise und bleibt damit handhabbar.
4.Alle Beiträge listen wichtige Desiderate auf und verweisen damit auf zukünftige Forschungskomplexe.
5.Die Gesamtanlage des Buches hat den Charakter eines Handbuches und stellt für alle, die sich in den nächsten Jahren mit diesem Thema beschäftigen wollen, eine wirkliche Hilfe und Quelle für weitergehende Forschungen bereit.
Es ist in der Tat das „einzigartige Nachschlagewerk über ein immer noch bewegendes Kapitel deutscher Geschichte“ geworden.
Die strikte Reduktion hat in einigen Fällen aber auch dazu geführt, dass der dargestellte Horizont nicht in seiner Gänze und Tiefe ausgeleuchtet werden konnte. Das hat bereits an der einen oder anderen Stelle kritische Anmerkungen hervorgerufen. Wichtige Teilaspekte seien nur ungenügend oder gar nicht berücksichtigt, andere über- oder unterbewertet.
Das Buch kann mit solchen Anmerkungen leben. Sie können den positiven Gesamteindruck nicht wesentlich schmälern, sollten aber bei einer möglichen und wünschenswerten 2. Auflage berücksichtigt werden.
In vielen Beiträgen werden Fragen gestellt, Forschungsrückstände aufgelistet und beklagt. Sie bleiben als ein gewollter Aspekt des Buches eine Herausforderung und sind zugleich eine Aufforderung an zukünftige Forschergenerationen. Und sie sollten sie in zweierlei Hinsicht aufgreifen: Diese Zeit darf im Gegensatz zu modischen Tendenzen nicht vergessen werden. Dabei kann und sollte der Appell, der von diesem Buch ausgeht, aber nicht so verstanden werden, dass alles, was in dieser Zeit an Arbeiten und Vorstellungen entstanden ist, unkritisch gesehen werden sollte und Bestand hat. Das würde den Vorwurf verstärken, den sich jüngere Wissenschaftler häufig ausgesetzt sehen, es mangele ihnen an wissenschaftlicher Distanz.
Ein weiterer Appell bleibt die Aufforderung, darüber nachzudenken, welche Arbeiten und Vorstellungen für die Gestaltung unserer heutigen gesellschaftlichen Entwicklung fruchtbar gemacht werden können. Damit eröffnet sich eine weitere Dimension des Buches, eine Dimension, die weit in die Zukunft ragt. Es bleibt zu hoffen, dass dieses wichtige Werk in vielen Bibliotheken und Kultureinrichtungen Gegenstand öffentlicher Präsentation und Diskussion wird. Dabei haben die Herausgeber, Autorinnen und Autoren ihre Unterstützung versichert.