#Sachbuch

"Meine Leserei war maßlos"

Hermann Korte

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

„Was brachte die Leser des klassischen Zeitalters dazu, sich mit Kanonklassikern ein Leben lang zu beschäftigen, sie auswendig zu lernen und bei jeder passenden Gelegenheit wie Bibelsprüche zu zitieren? Was faszinierte an Kanonwerken? Waren sie ein ‚kulturelles Kapital‘ zum sozialen Aufstieg, Medium der Bildung oder Mittel gegen Langeweile?“

 

Das sind viele Fragen, sie stehen alle am rückwärtigen Umschlag, und sie werden in Kortes Untersuchung alle nicht beantwortet, zum Teil werden sie so auch gar nicht gestellt. Was Hermann Korte versucht, ist trotzdem ein anspruchsvolles Unterfangen. Er nimmt „51 Autobiographien von Verfasserinnen und Verfassern, die zwischen 1800 und 1900 geboren wurden“ und untersucht die in ihnen enthaltenen LeserInnenbiographien als integrales Element und auch als Instrument retrospektiver Selbstpräsentation. Das ist ein interessantes Thema, zumal der Bereich der Leserforschung ein immer noch wenig bedientes und vor allem ein schwieriges Terrain ist. Korte hat sich seine Aufgabe durch das gewählte Textsample nicht leichter gemacht.

Die 51 BiographienschreiberInnen sind altersmäßig und sozial äußerst heterogen, Künstler, Wissenschafter, Theaterdirektoren oder Schriftsteller, wie Hans Carossa, Paul Ernst, Fanny Lewald, Ludwig Renn, Ina Seidel, Ottilie Wildermuth und Richard Voß, um jene zu nennen, die man zumindest den Namen nach noch kennt; dazu kommt eine österreichische Kleinfraktion mit Hermann Bahr oder Alma Mahler-Werfel. Warum nicht Arthur Schnitzler, Stefan Zweig oder Bertha Zuckerkandl, das sind legitime Entscheidungen, nur hätte man die getroffene Auswahl gerne argumentiert bekommen, um sie zu verstehen. Die zweite Hürde ist der zeitliche Rahmen: der älteste Memoirenschreiber ist Friedrich Eser, geboren 1798, der jüngste René König, Jahrgang 1906. Dieser Zeitrahmen ist nicht nur sehr breit gesteckt, er klammert auch historische Phasen zusammen, die durch radikale gesellschaftliche Brüche und Erschütterungen von einander getrennt sind. Gerade für das Thema Lesekultur oder gar die Kanondebatte ist kaum ein Zeitraum mit größeren Veränderungsschüben denkbar. Das sieht auch Korte so: „Die erste Generation der im 19. Jahrhundert Geborenen wuchs allerdings noch in der Frühphase literarischer Kanonbildung auf, in der religiöse Kanonpraxis noch vorherrschend und die Gipfelposition der Weimarer Klassik noch umstritten war“ (S. 108). Leider zieht Korte daraus nicht die Konsequenz, das umfangreiche Textmaterial nach zeitlichen wie schichtspezifischen Zugehörigkeiten zu ordnen und zu analysieren. Denn auch das soziale Umfeld ist mit „bürgerlichen Zusammenhängen“ wenig aussagekräftig. Wie innerfamiliär mit Fragen der Bildung und Leseförderung umgegangen wurde (und wird), ist doch zu einem großen Teil abhängig vom Selbstverständnis und von der beruflichen Verortung des Elternhauses. Da man viele der Schreiber nicht kennt, im Anhang keine Kurzbiografien angeführt werden, ist man bei den vielen unbekannten Namen im Analysefluss des Textes oft einigermaßen überfordert. Zwar werden bei der Erstnennung die Lebensdaten und manchmal auch der Beruf des Schreibers angeführt, aber bei wiederholtem Bezug auf die betreffende Autobiographie ist man oft nicht einmal sicher, in welchem Zeitraum man sich gerade befindet. Denn Korte ordnet seine Untersuchung nach rein thematischen Kriterien mit den Überbegriffen: Initiation, Einflusszonen, Kanonkultur, Kulturelle Praxis, und dahinter verbergen sich zwischen 1810 und 1920 sehr verschiedene Realitäten.

Als Sammlung verschriftlichter Zeugnisse von Leseerfahrungen ist Kortes Arbeit zweifellos verdienstvoll, verallgemeinerbare Aussagen sind daraus allerdings kaum zu gewinnen, so scheint es. „Erinnerungen an fesselnde Lektüreerlebnisse“, so Korte, rekurrieren „auf eine Leseerfahrung, die der eigenen Biographie als Grunderfahrung eingeschrieben ist“ (S. 37). Das ist etwas gedoppelt formuliert, aber unproblematisch. Dort, wo Korte Allgemeingültigeres herauszufiltern versucht, ist man sofort geneigt, zu widersprechen. „In weiblichen Autobiographien wird die Rolle von Gemüt und Rührung in der schulischen Vermittlungspraxis entweder als fehlend beklagt oder als besonders positiv erinnertes Erlebnis hervorgehoben“ (S. 93). Für Aussage Nummer eins steht ein Zitat von Fanny Lewald, für Aussage Nummer zwei eines von Wilhelmine Siefkes. Abgesehen davon, dass man sich prinzipiell nach dem Erkenntniswert der Aussage fragt, wurde die eine 1811 geboren, die andere 1890 – auch das Schulwesen war in diesem Zeitraum mit nicht geringen Veränderungen konfrontiert.

Was Korte an verschiedensten Beispielen lebendig werden lässt, ist der erzähltechnische Einsatz vor allem der jugendlichen Lektüreerlebnisse, die als „Erweckungserlebnisse“ interpretiert und geschildert werden, und dabei häufig als autonome, von keiner Erziehungsinstanz vermittelte Entdeckung präsentiert werden. So können Leseerlebnisse ihre Zäsurfunktion für das Selbstbild erfüllen, das die AutobiographInnen im Rückblick schreibend gestalten. Auch dabei bleibt allerdings ein kategorialer Unterschied, ob es sich beim initialen Lektüreeindruck etwa um die kindliche Begegnung mit Bibelgeschichten im pietistischen Familienzusammenhang handelt, oder um den mit Freunden entdeckten „Robinson Crusoe“, der unverzüglich lebenspraktisch in die kollektiven Spiele eingebaut wird. Nachdem Autobiographien in der Regel im Rückblick und in der Überzeugung eines geglückten (bürgerlichen) Lebens verfasst werden, sind die häufigen Erweckungserlebnisse mit den großen Klassikern von Lessing, Schiller, Goethe bis Heine wenig verwunderlich. Interessant ist Kortes Exkurs über die Rolle der schulischen Vermittlungsinstanz. Der Deutschunterricht, so Korte, blieb lange fest in der Hand der Altphilologen, deren Textkorpus Korte nur am Rande einbezieht bei der Analyse der Leserbiographien (die er hartnäckig „Kanonbiographien“ nennt, so wie er von „Anschlusskommunikation“ spricht, wenn er Literatur als Diskursthema meint); bis 1914, so Korte, galt im schulischen Zusammenhang ein absolutes Romantabu. Dem sollte man doch einmal mehr Aufmerksamkeit widmen.

„Literarische Sozialisation – und gerade auch die Kanonsozialisation – vollzog sich im Dialog bis hin zur direkten Einwirkung und Lenkung der Lektüreauswahl“ (S. 74), so Korte über die Leseerziehung im bürgerlichen Haushalt, die für einige der Autobiographien stimmen mag, für andere nicht. Im Anschluss bringt Korte ein kurzes Szenario über das spannende Thema des väterlichen Bücherschranks, den Korte für die jugendlichen Leser viel zugänglicher sieht, als er gewesen sein dürfte. Von Walter Benjamin bis Walter Mehring berichtet eine Vielzahl von Gründerzeitsöhnen von den schwierigen Zutrittsbedingungen – schließlich verwahrten die honorigen Gründerzeitväter in ihren Bücherschränken immer auch ein Depot mit Erotica. Bei Eduard von Bauernfeld, dessen Jugenderinnerungen „Aus Alt- und Neu-Wien“ (1873) in Kortes Zeitraum gepasst hätte, findet sich ein wunderbares Beispiel für die Selbststilisierung im Medium der Buchwelt. „In der Nacht vom 11. bis 12. Mai 1809 zündete eine der ersten Bomben“ im Haus seiner Eltern und zerstörte den Dachstuhl. Im Durcheinander der darauf folgenden Tage schleicht sich der noch nicht achtjährige Eduard immer wieder in die nun luftige Dachkammer, die bei Korte in Carossas Autobiographie eine Rolle spielt. Der kleine Eduard hat dort einen Wandschrank entdeckt, der die Hausbibliothek enthielt „und sonst sorgfältig verschlossen gehalten wurde. Nun war aber der Schrank gleichfalls angebrannt, die Türen weit klaffend aufgesprungen, und die Bücher standen offen und frei in anlockender Reihe“. Auf den brandigen Balken sitzend, beginnt Bauernfeld sein Leserleben; Ritterromane verschlingt er hier, aber natürlich auch Goethe. Mit großer Geste stilisiert er diese Episode zum epochalen Initialerlebnis, mit Napoleon zu Goethe gewissermaßen: Ich „verdanke meine erste Bekanntschaft mit dem größtem deutschen Dichter niemand Geringerem als dem ersten Feldherrn des Jahrhunderts“.

Hermann Korte „Meine Leserei war maßlos“
Göttinger Sudelblätter.
Göttingen: Wallstein, 2007.
163 S.; brosch.
ISBN 978-3-8353-0120-7.

Rezension vom 12.03.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.