Zunächst einmal ruft die Autorin ins Gedächtnis, daß viele Werke der sogenannten Weltliteratur sich eines historischen Stoffes bedienen und ihn dabei nach den eigenen Bedürfnissen mehr oder weniger „hinbiegen“. Als Paradebeispiel nennt Klüger Schiller, dessen historische Dramen von einer „Überhöhung des Politischen durch das Poetische“ (S. 27) geprägt sind, will heißen: die Fakten zugunsten einer Idealisierung durchaus außer Acht lassen können. Pikantes Detail am Rande: Zu seiner Ballade „Der Graf von Habsburg“ schrieb Schiller eigens eine Fußnote, in der er seinen Vers „Und alle die Wähler die sieben“ gleichsam als kommentierender Historiker „richtigstellt“: „[…] bemerke ich noch, daß ich recht gut weiß, daß Böhmen sein Erzamt bei Rudolphs Kaiserkrönung nicht ausübte“ (S. 26).
Von den klassischen Dramen macht die Literaturwissenschaftlerin dann einen Sprung in die Literatur der Nachkriegszeit und weist darauf hin, daß es lange Zeit durchaus Mode war, den historischen Bezug von Literatur prinzipiell zu leugnen und diese auf das rein Sprachliche zu reduzieren. „Und wenn man jetzt zurückblickt, so kann man nicht umhin zu fragen, ob das alles nicht eine Flucht vor der Geschichte war, nämlich einer Geschichte, die man am eigenen, fast verbrannten Fleisch erlebt hatte.“ (S. 37) Als Flucht vor der Geschichte interpretiert Klüger etwa die besonders bei jüdischen Studenten in Amerika erfolgreichen Theorien des Dekonstruktivisten Paul de Man.
Was die „Holocaust-Literatur“ betrifft, so deutet die Autorin anhand einiger Beispiele an, daß hier dem Künstler von vornherein wenig Spielraum zur Verfügung steht. Schon geringe Abweichungen von den historischen Fakten werden vom Leser kaum toleriert. Aber „gleichzeitig lassen wir Fiktionen gelten, die unserem Bedürfnis, das Grauen auch richtig auszukosten, entgegenkommen.“ (S. 44) Eine durchaus zwiespältige Position, in der sich der Leser da befindet. Was die Problematik einer ästhetischen Bewertung betrifft, so erwähnt Klüger den Fall des Schriftstellers Wilkomirski, dessen Buch über seine angebliche Kindheit in einem KZ als Fälschung entlarvt wurde. Nach dem Urteil der meisten Kritiker genügt diese Tatsache, um dem Buch auch jenen ästhetischen Wert abzusprechen, der ihm vor dem Auffliegen des Skandals durchaus zugebilligt wurde.
„Eine Stelle, die vielleicht gerade in ihrer naiven Direktheit erschütternd wirkt, wenn man sie als Ausdruck erlebten Leidens liest, und die sich dann als Lüge erweist, verkommt in der Darstellung erfundenen Leidens zum Kitsch.“ (S. 50)
Davon ausgehend gelangt Ruth Klüger schließlich zu einem Urteil, das wohl nicht nur auf Darstellungen der jüngsten Geschichte zutrifft: „Wo sich Literatur und Film der Geschichte nur bedienen, sie sozusagen kannibalisieren, da verkommt sie zum Kitsch.“ (S. 51)
Daß der Leser in diesem schmalen Bändchen keine fertigen Antworten finden wird, versteht sich von selbst. Denn geschickt versteht es Klüger, dem Thema immer wieder neue Aspekte zu entlocken und die Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion spürbar zu machen. Als Einstiegslektüre erweist sich „Dichter und Historiker: Fakten und Fiktionen“ als äußerst „appetitanregend“.