Im Juni 1957 teilt Dora Erdinger, eine Cousine von Bertha Pappenheim und deren erste Biographin, Martin Buber in einem Brief die Befürchtung mit, dass ihre Freundin „nur als Anna. O. weiterlebt“. Die tiefe Kluft zwischen der Geschichte der jüdischen Sozialpionierin und Feministin und der berühmtesten aller „Hysterikerinnen“, die wir aus Josef Breuers Krankengeschichte der „Anna O.“ kennen, spiegelt sich in zahllosen Aufsätzen und einem knappen Dutzend Bücher.
Wie lässt sich die vielgelesene Hysteriegeschichte aus den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die zum Gründungsmythos der Psychoanalyse erklärt wurde und deren Spuren noch in Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ zu finden sind, zusammendenken mit der Tatkraft und dem Mut einer Frau, die in Frankfurt am Main ein jüdisches Waisenhaus leitete, einen „Verein Weiblicher Fürsorge“ und den „Jüdischen Frauenbund“ gründete, immer wieder ausgedehnte Reisen nach Galizien, Russland und in den Orient unternahm, zum Teil ohne Begleitung, um gegen die Prostituierung verelendeter Ostjüdinnen zu kämpfen, die in ihren Vorträgen und Hilfsaktionen nicht davor zurückscheute, sich mit allen, auch mit den Verbänden der orthodoxen Juden anzulegen, die Märchen, Erzählungen, Theaterstücke und Kampfschriften verfasste? Die Antwort des Freud-Biographen Ernest Jones, der 1953 als erster die Identität von Anna O. publik machte, und von späteren Psychoanalytikern, dass Pappenheims soziales Engagement nur eine andere Entwicklungsphase ihrer Krankheit gewesen sei, klingt jedenfalls unbefriedigend. B. P. selbst kommentierte niemals öffentlich Breuers und Freuds „Studien über Hysterie“, lehnte aber mit großer Entschiedenheit psychoanalytische Behandlungen für ihre weiblichen Schutzbefohlenen ab.
Was Marianne Brentzels Biographie von früheren Arbeiten (zuletzt war Mikkel Borch-Jacobsens Buch „Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung“ erschienen) unterscheidet, ist zum einen ihr Verzicht auf eine explizite Widerlegung oder Fortschreibung von Breuers berühmter Krankengeschichte und von Freuds späteren Kommentaren, zum anderen ein über die Lebensgeschichte hinausreichender kultur- und sozialgeschichtlicher Rahmen, zu dem das Bild der Ostjuden in Galizien, die rechtliche Situation jüdischer Frauen um die Jahrhundertwende, eine Skizze der frühen Frauenbewegung und der Konflikte zwischen Feminismus und jüdischer Orthodoxie gehören. Bertha Pappenheim wird mit großer Nüchternheit ein Denkmal gesetzt, das ihre Schwächen und Grenzen nicht leugnet.
Michael Rohrwasser
17. Juni 2002
Originalbeitrag