Sein überzeugender Reiz liegt im Anspruch, dass es bei der Analyse von Kunstwerken einen dritten Weg gibt: Eine „Wissenschaft von den Kulturprodukten“ im Bourdieuschen Sinne, mit dem Sonderfall des literarischen Feldes, wendet sich sowohl gegen formalistische Verstehenskonzepte, die sich von invarianten anthropologischen (sprachlichen) Strukturen herleiten, das heißt gegen die verschiedenen Strukturalismen, als auch gegen eine „soziologistische“, von biographischen, ökonomischen, politischen Modellen sich ableitende Reduktion des ästhetischen Komplexes. „Der Feldbegriff ermöglicht es, über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgend etwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben.“ (S. 328)
Als Koordinaten bei der Rekonstruktion und Beschreibung gesellschaftlicher Bereiche (der Mode, der Literatur, des Bildungswesens etc.) dienen die für Bourdieu zentralen und im Lauf der Jahre immer weiter ausdifferenzierten (weshalb eine Kurzcharakteristik stets unvollständig bleibt) Begriffe des „Feldes“ und des „Habitus“: Das Feld ist ein Netz von im historischen Prozess entstandenen Relationen zwischen einzelnen Positionen; wobei die Positionen durch die Verteilung von Macht und von ökonomischem wie symbolischem Kapital definiert sind. Das Feld ist ein „Kampfplatz“, auf dem die Akteure um die Erweiterung der Grenzen des Feldes oder auch um deren Bestand kämpfen; im literarischen Feld spielt sich der Kampf etwa auch um die Definition dessen ab, was ein Schriftsteller ist. Der Habitus ist „etwas Erworbenes und zugleich ein ‚Haben'“, weil es manchmal „als Kapital funktionieren kann“ – als Trümpfe auf dem Spielplatz des Feldes. (S. 286) In den Habitus sind individuelle Dispositionen eingegangen, die sich mit bestimmten erworbenen Haltungen mischen.
Den ersten Teil der Untersuchung bildet eine bestechende Analyse von Flauberts „Erziehung des Herzens“ als Modellfall der fiktionalen Thematisierung der Genese eines autonomen künstlerischen Feldes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Flauberts Held Frédéric ist ein Grenzgänger zwischen dem Feld der Kunst und dem Feld der Ökonomie und Politik, wobei alle Subfelder ihren je eigenen Regeln unterworfen, gleichzeitig aber immer Teil des umfassenden Machtfeldes sind.
Bourdieus Ansatz ist strikt antiessentialistisch; Bedingung jeden Verstehens, Bedingung aber auch von kollektivem intellektuellem Handeln ist die unentwegte Historisierung sowohl des spezifischen Raums der Möglichkeiten, in den sich jede künstlerische Äußerung einschreibt, als auch der Verstehensmodelle, die wir als Leser/Interpreten fraglos an Literatur und Kunst herantragen, wodurch wir Gefangene eines gesellschaftlich produzierten und historisch akkumulierten common sense bleiben. Eine neuartige ästhetische Leistung ist für Bourdieu eben nicht durch Bedingungen externer Faktoren wie Biographie, ökonomische Umstände etc. determiniert, ebensowenig aber durch ein nebuloses „Kunstwollen“, ein individuelles kreatives Potential, motiviert. Vielmehr findet zu einem definierten historischen Zeitpunkt der künstlerische Ausdruck seine ästhetische Form innerhalb der vom Feld vorgegebenen Möglichkeiten. (Bourdieu verdeutlicht dies an den Gattungshierarchien und dem Wandel literarischer Formen wie etwa der Erzählung.) Verstehen wiederum hat zu seiner Voraussetzung eine Reflexion der eigenen Bedingungen, was politische Konsequenzen hat: „Ich glaube, wir haben nur dann eine gewisse Chance, zu einer echten Kommunikation zu gelangen, wenn wir die uns trennenden Spielarten des historischen Unbewußten, das heißt die jeweils spezifische Geschichte der intellektuellen Universen, deren Produkt unsere Wahrnerhmungs- und Denkkategorien sind, objektivieren und meistern.“ (S. 529f.)
Das gilt für das Verstehen von Kunstwerken wie für den kollektiven und transnationalen Widerstand der Intellektuellen gegenüber den „Technokratien“. Der Soziologe Bourdieu erweitert hier einen Zentralsatz der experimentellen Literatur: dass Arbeit mit Sprache die Bedingungen und Bedingtheiten unserer Wahrnehmungsmuster aufbrechen soll.
Ausgeführt findet sich dieses zentrale Postulat der Historisierung und Objektivierung im zweiten und dritten Teil der Untersuchung zu den „Grundlagen einer Wissenschaft von den Kulturprodukten“ und einem Kapitel über das Verstehen des Verstehens. Trotz einiger redundanter Passagen wird durch den ständigen Rekurs auf die theoretischen Zentralbegriffe in immer neuen Kontexten deutlich, wie sehr für Bourdieu soziale Mechanismen, ästhetische Fragestellungen und das Selbstverständnis der historisch jungen Gruppe der Intellektuellen aufeinander bezogen sind.
Deswegen beanspruchen Bourdieus Thesen geradezu, sie in den je eigenen kulturellen Kontext zu übertragen: So würde etwa eine präzise Analyse des österreichischen kulturellen Feldes der 60er Jahre die tradierte Beschreibung des antagonistischen Verhältnisses zwischen konservativer Hochkultur und auf ihrer literarischen, lebensweltlichen und gesellschaftlichen Autonomie pochenden progressiven Subkultur, wofür Aktionismus und „Wiener Gruppe“ heute stehen, wahrscheinlich modifizieren und damit auch unser Verständnis davon, welcher Art die Relationen zwischen den Positionen im Feld bzw. den Akteuren, die diese Positionen einnehmen – Kritikern, Kunstvermittlern, Autoren, Verlegern etc. – sind. Denn der kurze Weg der radikalen österreichischen Avantgarde vom äußersten Rand des autonomen kulturellen Feldes hin zur arrivierten Staatskunst und zum literarischen Kanon sagt viel aus über die Produktionszyklen kultureller Werte und über den akkumulierenden Charakter ästhetischen Vermögens und Verstehens.
Fast modellhaft ließe sich studieren, was Bourdieu zur Entwicklung des literarischen Feldes sagt, etwa zur immer größer werdenden „Geschichtlichkeit“ des literarischen Feldes: Ein „wahrhaft“ avantgardistisches Werk ist nur mehr als zukunftsweisendes erschließbar, wenn es in all seinen Bezügen und historischen Voraussetzungen, in all dem, wovon es sich absetzt und worauf es anspielt, verstanden wird. Diesen in seiner Unerfüllbarkeit transzendentalen Anspruch an den Kritiker und Leser stellen nur mehr sehr wenige. Andererseits und damit zusammenhängend ist längst eingetreten, was Bourdieu die „Banalisierung des Entbanalisierungseffektes“ (S. 402) nennt: Errungenschaften der Avantgarde wurden zur kunstfertig angewandten Manier, der Schock zum Pfeffer in der Suppe der Kunsthändler, Museumskuratoren und Kunstvermittler. Der Logik der Bourdieuschen Konstruktion folgend müßte aus Gründen der Distinktion die freigewordene radikale Position neu besetzt und neu definiert werden, um jenes symbolische Kapital einzufahren, das die alte Avantgarde tendenziell gegen ökonomisches bzw. Aufmerksamkeitskapital eingetauscht hat. Es müßte die Absetzung einer jüngeren Avantgarde von der älteren erfolgen – was nur mehr selten passiert. Wenn die neuen deutschen Bestsellerautoren medienwirksam als „Enkel“ von Grass und Böll vermarktet werden und mit Blechtrommeln auf dem Spiegel-Cover erscheinen, dann hat die Logik des Marktes gegen die Verlockungen einer autonomen künstlerischen Existenz gesiegt.
Bourdieu korrigiert am Schluß des Buches die eigene Konstruktion: „Man könnte sich die Frage stellen, ob die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die kulturellen Produktionsfelder charakteristische Spaltung in zwei Märkte – auf der einen Seite das eingeschränkte Feld der Produzenten, die für Produzenten produzieren, auf der anderen Seite das Feld der Massenproduktion und der Literaturindustrie – nicht zu schwinden droht, da die Logik der kommerziellen Produktion sich innerhalb der avangardistischen Produktion […] immer stärker durchsetzt.“ (S. 531) Und weil der Kampf um Aufmerksamkeitskapital allen Mitspielern gemein zu sein scheint bzw. gerade das vormals rein symbolische Kapital, das im Verzicht und im Rückzug lag, heute zur in klingende Münze umgewandelten Aura werden kann: Gerade wer sich entzieht wird bevorzugt zum Objekt der medialen Begierden. Jedenfalls steht neben der literarhistorischen Aufarbeitung der österreichischen Literatur nach 1945 eine im Bourdieuschen Sinne „soziologische“ noch aus, welche die von außen betrachtet seltsamen Blüten, die das literarisch-intellektuelle Feld hierzulande bietet, objektiviert und den allgegenwärtigen Narzißmus der Mitspieler auszutreiben hilft.
Bourdieus Analysen von Werken Flauberts und auch Faulkners im vorliegenden Band sind brillant, weil sich die theoretischen Implikationen aus dem analysierten Gegenstand ergeben und weil sie gleichzeitig einen historischen Raum konstruieren. Ohne Bourdieus „Soziologie der symbolischen Formen“ wären viele der gegenwärtig avancierten sozialwissenschaftlichen Ansätze nicht denkbar. Ihre Grenzen haben „Die Regeln der Kunst“ dort, wo die heutige Medienwirklichkeit die in der Beschreibung manchmal statisch anmutenden Kämpfe im Feld tendenziell auflöst. Was sie statisch erscheinen läßt, ist das Muster von Aktion und Reaktion, die Bewegung von der Autonomie zur Konvention, von den Neuerern zu den Bewahrern – eine Makrostruktur, die von der genetischen Analyse von Autoren und Werken selbst immer wieder überschritten wird. Die Regeln der Kunst sind zu sehr an den paradigmatischen Wandel des Feldes Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gebunden, um der „illusio“ (ein weiterer Zentralbegriff Bourdieus) des medialen Feldes immer gerecht zu werden. Jedoch ist das Instrumentarium so flexibel, dass es auch den veränderten Verhältnissen jederzeit angepasst werden kann. Für den, der die Genese der (künstlerischen) Wahrnehmungsmuster verstehen will, ist es unverzichtbar.