Ohne methodische Vorwarnung stürzt er sich kopfüber in die Materie und berichtet, wie in Deutschland in der Ära Wilhelms II. die deutsche Klassik zu einer abstrakten Autorität gemacht worden sei, die der ästhetischen Moderne die Durchsetzung erschwerte. Dabei werden zahlreiche Argumentationsmuster nachgezeichnet, aber der Autor erliegt nie einem simplen dualistischen Schema, sondern ist sich der Widersprüchlichkeit der Positionen bewußt. Dabei geht es um viele konkrete Fülle wie die Schillerfeiern 1859, um die Auseinandersetzungen mit Richard Wagner, um die privaten und öffentlichen Kunstsammlungen und den Erwerb zeitgenössischer Kunst, um die Schmutz-und-Schund-Debatte, um die Rolle Weimars in der Weimarer Republik, um die Kulturpolitik der Sozialdemokratie, um Jazz und den Amerikanismus, um den „Kulturbolschewismus“, um die Bücherverbrennung von 1933, um das Pro und Contra zum Film – und der Leser, dem der Kopf ob der Fülle der Zitate schwirrt, verlöre den Faden, zöge sich nicht der Begriff des „Bildungsbürgers“ durch das ganze Textgewebe wie ein roter Faden. Das Buch läßt sich, ohne ihm durch Vereinfachung zu schaden, auf eine Formel bringen: Weil der Bildungsbürger in Deutschland (zum Unterschied von Frankreich oder England) im unreflektierten Vertrauen auf den Idealismus einer konservativen Wertehierarchie erlag, hätte er sich nicht nur der Moderne entgegengestellt, sondern auch dem Nationalismus verschrieben und dem Nationalsozialismus eine Basis geschaffen: Der Kampf gegen die Moderne erscheint als ein deutsches Spezifikum: „Die kulturelle Moderne gefährdet die kulturelle Hegemonie des Bildungsbürgertums, und sie trägt als internationales Phänomen nur wenig zur nationellkulturellen Integration bei.“ Prägnant bestimmt Bollenbeck die Beziehung von Moderne und Gesellschaft in Deutschland: „Je moderner die Moderne, desto häufiger wird deren Kunst verworfen und als Krisensymptom der Gesellschaft verbucht“ – ein Satz, dem man – weit über den Untersuchungszeitraum hinaus – die Gültigkeit eines Naturgesetzes zuschreiben möchte.
Im Sinne angewandter Kulturwissenschaft geht Bollenbeck interdisziplinär vor, zitiert aus Quellen unterschiedlicher Herkunft und versucht, zwischen den Einzelphänomenen Analogien herzustellen. In nahezu jeder Sachfrage erweist sich die erstaunliche Kompetenz des in Deutschlands kulturellem Unglück gut bewanderten Verfassers. Ich möchte aber ein gewisses Unbehagen nicht verhehlen: Da hatte ich ein gut geschriebenes, sorgfältiges und gründliches Werk verschlungen, und doch fehlte mir etwas – es fehlte mir das, worum es geht, nämlich die Kultur im allgemeinen oder im besonderen die Literatur, die Musik und die Bildende Kunst. Das mag eine Konsequenz des kulturwissenschaftlichen Verfahrens sein, bei dem der Streitwert des Wagnerschen oder Brechtschen Werkes schlicht draußen bleibt und dieses nur mehr als Teil einer Argumentationsfigur fungiert. Gewiß, es soll um die Kontroversen gehen, aber diese bleiben abstrakt. Das, worum gestritten wird, steht in der leeren Mitte des Buches, und wie die Moderne oder die verschiedenen Avantgarden aussehen, bleibt opak. Bollenbeck hat sich auch mancherlei Askese in bezug auf die Sekundärliteratur auferlegt, was ja bei der Fülle des Materials zu verstehen ist, warum aber bei einem Buch, das die Avantgarde in ihrem Titel führt, die Thesen Peter Bürgers draußen bleiben, warum beim zentralen Abschnitt über die Weimarer Republik (und sei es auch nur, um ihn zu kritisieren) Sloterdijk überhaupt nicht vorkommt, warum etwa Helmut Lethens grundlegende Untersuchung über die Neue Sachlichkeit fehlt, ist mir unerfindlich, zumal dort manches für diesen Zusammenhang Einschlägige zu finden ist. Statt den Kunstwerken nachzuspüren, bekommt man die Äußerungen über diese vorgesetzt, und so ergibt sich das betrübliche Fazit, daß in dieser Studie letztlich Wilhelm II., Ebert oder Hitler für die Kunst verantwortlich zu sein scheinen, da sie ihren Geschmack durchzusetzen vermochten. Die großen Akteure, die man mit feierlicher Geste aus dem geisteswissenschaftlichen Diskurs verbannte, kommen durch die Hintertüre der Kulturwissenschaft wieder herein.
Noch etwas: Wenn Zeugen wie Tucholsky oder Kracauer, wie Georg Simmel oder Musil angerufen werden, wird klar, daß viele Diagnosen, heute mit wissenschaftlichem Ernst vorgebracht, schon damals in gültiger Formulierung zu haben waren und ihnen nunmehr nichts hinzuzufügen ist. Die Einwände ließen sich fortsetzen, sie mögen aber dem Rang des Buches nichts anhaben, sondern bezeichnen das Dilemma der Geisteswissenschaft und ihrer traditionellen Disziplinen, die dazu verurteilt sind, sich fortwährend neu konstituieren zu müssen.