Martin Stobbe erhebt in seinem Beitrag die wohlbegründete Forderung, dass bei Beschäftigung mit digitaler Literatur die Lektüre des Quellcodes eine wichtige Voraussetzung darstellt, um die dort festgelegten Vorentscheidungen und Einschränkungen nachvollziehen zu können, und das beginnt schon bei digitalen Erfassungssystemen. Die digitalen Bedingungen verändern nicht nur die Lesegewohnheiten, sondern auch die Anforderungen an die Analysemethoden, um in die Struktur der jeweils vorgegebenen „Datenkorsette“ (S. 61) einzudringen.
Peter Scheinpflug unternimmt eine erste Besichtigung der AR-Erweiterungen in Texten mit dem Titel „Augmented reading. Lesen als multimediale Praktik im Digitalzeitalter“: Der US-amerikanische Verlag Marvel bietet seit 2012 seinen Comic-Lesern AR-Erweiterungen an, die nicht nur „habitualisierte Lesepraktiken“ (S. 79) verändern, sondern auch apparative Abhängigkeiten und Einschränkungen sowie neue Geschäftspraktiken mit sich bringen. Renate Giacomuzzi fragt nach den Veränderungen der Autorrolle im „Kontext digitaler Kommunikationsmodelle“, durch die AutorInnen in die Vermarktung des eigenen Werkes wie der eigenen Person einsteigen (müssen).
Spannend sind etwa auch die ungeklärten urheberrechtlichen Fragen bei Online-Schreibprojekten, an denen die Community zumindest indirekt mitschreibt. Bereits 1997 kam die Aspekte-Redaktion des ZDF auf die Idee, Ilija Trojanow auf ihren Seiten Stück für Stück einen Roman schreiben zu lassen. Thomas Ernst analysiert das Phänomen u. a. am Beispiel von Tilman Rammstedts morgen-mehr.de für den Hanser Verlag. Alle diese Projekte sind bislang früher oder später in Buchform erschienen – so auch Rammstedts Roman. Mit diesem Medienwechsel aber verschwindet die Beteiligung der Community hinter dem traditionellen Endprodukt in Buchform, was die Beiträge der Leser „substrahiert“ und den „besonderen Produktionsprozess des Romans zu einer Werbephase für das eigentliche Buch“ (S. 61) umwertet.
Enthalten sind im Band auch erste systematische Analysen zu spezifischen Rezeptionsformen von Literatur im Netz: Das Phänomen „Gemeinsam lesen“ auf Literaturplattformen wie LovelyBooks, gegründet 2006 von einer Tochter der Verlagsgruppe Georg von Holzbrinck, untersucht Raphaela Knipp; Martin Rehfeldt macht sich auf die Suche nach Unterschieden bei Amazon-Rezensionen „zu U- und E-Literatur“ – die so groß nicht sind.