#Sachbuch

Letzte Welten - Neue Mythen

Nicola Bock-Lindenbeck

// Rezension von Herwig Gottwald

In ihrer an der Universität Düsseldorf entstandenen Dissertation will Nicola Bock-Lindenbeck die „Arbeit am Mythos in der deutschen Prosaliteratur von 1985-1995 […] erforschen“ (S. 1), indem sie anhand eines umfangreichen Textkorpus zwei Grundhaltungen der Verfasserinnen und Verfasser zum „Mythos“ (eine weltanschaulich mythisch-religiös geprägte und eine profane) und drei – jeweils kombinierbare – Weisen des Umgangs damit typologisch-schematisch zu erarbeiten versucht.

Kriterium der Unterscheidung ist dabei die Trennung der Stoffbereiche der Texte: neben genuin mythischen Stoffen explizit mythisch-religiöse Vorstellungen, aber auch Mythos-Theorien (S. 5). Bock-Lindenbeck kommt es darauf an, möglichst übersichtlich den „weltanschaulichen Rahmen des Textes“ zu erschließen, die „Intention des Autors“ zu erschließen (S. 2f.) und die Texte in eine „Typologie der literarischen Arbeit am Mythos 1985-1995“ einzufügen (S. 255ff.). Dieses Vorhaben leidet unter dem prinzipiellen methodischen Defizit der gesamten Arbeit, die zwar vorgibt, theoretische Ansätze der modernen Mythosforschung breit einzubeziehen, ohne dies wirklich leisten zu können. Bereits die von der Autorin geforderte „Notwendigkeit, den Begriff des Mythos neu zu definieren“, da sich die einschlägigen philosophischen Theorien „an völlig heterogenen Denktraditionen“ orientierten (S. 1), stellt sich als Lexikon-Zitierung heraus: „Mythos“ ist dann lediglich die „Ursprungs-, Götter- und Heldengeschichte einer prähistorischen Zeit“ (S. 19). Auch der für die gesamte Arbeit wesentliche Begriff „mythoshaltige Literatur“ wird tautologisch bestimmt: „Von der Mythoshaltigkeit der Literatur ist nur dann zu sprechen, wenn sie in einem engeren Verhältnis zum Mythos steht.“ (S. 1)

Vieles gerät der Autorin in Folge dann auch eher salopp bis oberflächlich, z. B. ihre Unterscheidung zwischen „rationaler“ und „irrationaler“ Literatur: Die rationale sei „eine von der Vernunft bestimmte“, die irrationale dagegen, „zu der in gewissem Rahmen die mythoshaltige Literatur gehört – ist dem logischen Denken nicht zugänglich“ (S. 7). Dazu paßt das umfassende Vorhaben Bock-Lindenbecks, die „Summe aller Deutungsmodelle“ „aufzudecken“, als die sich „Mythos“ selbst definiere (S. 18). Die daraus zwangsläufig resultierende prinzipielle Simplifizierung der Mythos-Diskussion in der modernen Philosophie und Literatur führt schließlich zu Feststellungen wie: „Je vernunftorientierter die Zeit, desto mythischer in Folge die Literatur“ (S. 15). Begriffe wie „Remythisierung“, „mythisches Denken“ oder „mythisches Daseinsbewältigungspotential“ werden häufig auf die Texte bezogen, ohne daß auch nur der Versuch einer semantischen Präzisierung oder wissenschaftlichen Fundierung gemacht wird.

Was die Autorin unter „Melodienmythos“, „Tonmagie“ oder „postmoderner Grunderfahrung“ versteht (S. 176ff., 187), wird leider nirgends deutlich. Symptomatisch für diese Form des unbedenklichen und ungenauen Umgangs mit Begriffen ist die sehr undeutliche Verwendung der Begriffe „Mythos“ und „Mystik“ gerade in der Analyse des an kabbalistischen Traditionen orientierten Romans „Das Alphabet des Juda Liva“ von Benjamin Stein (S. 231ff., 238, 244), eines Texts, dessen Lektüre gerade diesbezüglich Präzision verlangt. Ein Vergleich mit Ecos „Das Foucaultsche Pendel“ wäre hier zielführend gewesen. Der ungenaue Umgang mit dem Bereich der Esoterik zeigt sich auch in der kommentarlosen Aneinanderreihung von Autoren wie Manfred Frank, Bernd Hüppauf und Fritjof Capra (S. 259f.).

Bereits die willkürliche zeitliche Beschränkung des Untersuchungszeitraumes auf das Jahrzehnt von 1985 bis 1995, die wichtige Texte wie Christa Wolfs „Kassandra“, „Medea“ oder auch Peter Handkes „Langsame Heimkehr“ von vornherein ausklammert, erscheint mir wenig zielführend da, wo Themenbereiche angeschnitten werden, die nur gewaltsam aus ihren literarischen Kontexten gelöst werden können (z. B. die Romane von Dagmar Nick, Michael Köhlmeier oder Sten Nadolny). Statt dessen konzentriert sich Bock-Lindenbeck auf zehn ziemlich umfangreiche und auch thematisch heterogene Romane, deren Textanalyse schon aus Raumgründen oft unverbindlich-oberflächlich bleibt, vielfach über bloße Inhaltsparaphrasen und simplifizierende Zusammenfassungen (z. B. S. 56, 158) kaum hinausreicht, zumal oft zuwenig Distanz zum Text entwickelt wird.

Viele Themen, Fragen und Kontexte können aufgrund dieser Vorentscheidung lediglich kurz angesprochen werden und bleiben zumeist vage (z. B. das komplizierte Problem der Postmoderne-Zuordnungen, S. 94, 109, 130, 147, oder die Bezüge literarischer Texte zu philosophischen Traditionen, etwa zu Nietzsche, S. 109, 194). Ergebnis dieser Verfahrensweise sind Thesen wie die folgenden: Wie z. B. Gert Heidenreichs Roman „Belial oder die Stille“ auf ca. 300 Seiten sowohl die „Aneignung des mythischen Daseinsbewältigungspotentials“ als auch einen „große[n] Abgesang auf das Zeitalter der Moderne mit all seinen Konsequenzen“ zu leisten imstande sein soll, kann die Textinterpretation ebenso nur apodiktisch behaupten (S. 169f.) wie die angebliche Tatsache, daß „Sinnentleerung […] das alles umfassende Schlüsselwort in diesem Roman“ sei (S. 166; vgl. auch die Thesen zu Köhlmeier, S. 25, 36, 38f.). Nadolnys „Ein Gott der Frechheit“ soll einerseits „ein neuer Mythos“ sein (S. 257) und andererseits die „Orientierungslosigkeit des Autors [dokumentieren], dem das mythische Geschehen zunehmend entgleitet“ (S. 125). Zu Horst Sterns „Klint“ merkt die Verfasserin pauschalierend und apodiktisch an: „Phantasie und Mythos werden nicht – wie sonst in der Literatur üblich – verdrängt, sondern vermarktet, bestimmten Zwecken angepaßt.“ (S. 148; die Gegenthese dazu: S. 15).

Obwohl bereits das zugrundeliegende Textkorpus für eine präzise und fundierte Textanalyse zu umfangreich und zu heterogen ist, bezieht Bock-Lindenbeck in zahlreichen Querverweisen weitere Texte in ihre Untersuchung mit ein, deren Interpretation (die zumeist in Anmerkungen erfolgt) denn auch oberflächlich und verkürzend bleiben muß, was sich etwa am Beispiel Handkes zeigen läßt: Der Roman „Die Wiederholung“ wird durch isolierendes Zitieren aus dem Kontext von Handkes OEuvre gelöst und mit den Tendenzen der übrigen Texte in eine zumeist fragwürdige Verbindung gebracht (S. 161f., 196, auch S. 261, 269). Ähnliches widerfährt Werken von Günter Grass (S. 16), Botho Strauß (S. XVII, 14) oder Patrick Roth (S. 264f.).

Methodisch prinzipiell fragwürdig ist auch der häufig unternommene Versuch, philosophische Mythos-Theorien und literarische Texte so zu verklammern, daß diese als „Übersetzung“ theoretischer Konzepte „in die Handlung“ erscheinen (S. 169), die Poetizität von Literatur also ausgeklammert wird. Bis zuletzt bleibt die Autorin dieser Verfahrensweise treu, wenn sie zusammenfassend die „literarische Umsetzung der Theorie“ Cassirers über „mythisches Bewußtsein“ in vielen der Texte erkennen will und zugleich behauptet, „die literarische Beschäftigung mit Mythostheorien geschieht […] nicht explizit“ (S. 275), ohne diese Modifizierung zu erläutern.

Trotz dieser grundlegenden methodischen und interpretatorischen Defizite des Buches enthält es durchaus weiterführende und zutreffende Aspekte. Hier sind vor allem die Heranziehung entlegener Quellen (Rezensionen, Briefe der Autorinnen und Autoren) und eine von intensiver Beschäftigung mit dem Thema zeugende umfassende Bibliographie zu nennen, die den Lesern durchaus Anregungen für eigene Beschäftigungen zu geben vermögen. Hierher gehört auch die grundlegende Leistung der Arbeit Bock-Lindenbecks, der übrigens eine Überarbeitung und Rückstufung des Erkenntnisanspruchs gleichermaßen gut getan hätten, nämlich auf in den Mythos-Debatten kaum berücksichtigte, noch wenig bekannte Texte aufmerksam zu machen (z. B. auf die Romane Horst Sterns oder Benjamin Steins) und diese einer ersten Interpretation zu unterziehen.

Daß „weniger“ hier letztlich „mehr“ gewesen wäre, ist bedauerlich. Durchaus treffende Analysen und kritische Einsichten in die literarischen Verfahrensweisen einzelner Autorinnen und Autoren bestätigen diese Tatsache: Zu den stärksten Partien des Buches zählen die Interpretation von Inge Merkels Odysseus-/Penelope-Roman „Eine ganz gewöhnliche Ehe“, dessen poetologische und erzählerische Defizite überzeugend nachgewiesen werden können (S. 56, 68, 72ff., 76). Das gilt auch für die Analyse von Dagmar Nicks „Medea“-Roman (85, 92) und für die treffende Zusammenfassung der Fragen, die die Texte von Horst Stern, „Klint“, und Adolf Muschg, „Der rote Ritter“, aufwerfen (S. 149, 203f.).

Insgesamt kann das Buch die in der Einleitung ausgelösten Erwartungen zum Großteil nicht einlösen, ist für einen ersten Zugang zur Thematik streckenweise jedoch durchaus brauchbar und auch als Nachschlagewerk nützlich.

Nicola Bock-Lindenbeck Letzte Welten – Neue Mythen
Der Mythos in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Köln, Weimar, Wien: böhlau, 1999.
290 S.; brosch.
ISBN 3-412-03298-0.

Rezension vom 06.03.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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