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Stille

Peter Zimmermann

// Rezension von Marcus Neuert

Ein Gefangener in Gegenwart und Vergangenheit. Drei Paare, die keine mehr sind. Zwei Freunde, der eine schon tot im Leben, der andere ein lebendiger Toter. Zwei Frauen in lesbischer Verstrickung. Erinnerungen in Bruchstücken. Anspielungen, Literatur-, Film- und Songzitate. Sprünge in Zeit und Ort. Zeugen der Vergangenheit. Auf Umwegen zugestellte Briefe. Perspektivwechsel. Sünder, Beichtväter, Beichtmütter. Episoden über Episoden.

Zugegeben, man kann sich eine unkompliziertere Lektüre vorstellen. Was Peter Zimmermann, scharfkantiger Kritiker des österreichischen Literaturbetriebes und den Kulturinteressierten als Ö1-Ex Libris-Moderator bekannter Streiter für erzählerischen Mut und gegen schriftstellerische Halbtalente, mit seinem vierten Roman vorlegt, ist vor allem dem geduldigen Langsamleser zu empfehlen. Auf wenig mehr als zweihundert Seiten entwirft der Autor einen Kosmos aus gescheiterten Liebes- und Lebensbeziehungen, die unter dem Motto der Aussage von Paul, einer der Figuren, zu stehen scheinen: „Alles, aber auch wirklich alles ist Elend, Enttäuschung und Bedauern“ (S. 44).

Der Protagonist Jan wird an einem unbestimmten Ort von einer ebenso wenig näher bezeichneten staatlichen Macht in einer Hütte im Wald in Einzelhaft festgehalten. Es gibt keine Anklage, keinen expliziten Grund für diesen Freiheitsentzug, gleichzeitig scheint eine Flucht Jans als durchaus im Bereich des Möglichen liegend, da nur ein einziger „Mann in Pfadfinderuniform“ (S. 5) für seine Bewachung zuständig ist. In dieser „Endlosschleife der Ereignislosigkeit“ (S. 10) verfolgen Jan seine Erinnerungen an Katharina, seine langjährige Lebensgefährtin, seinen nach Jahren wiedergefundenen Jugendfreund, den Maler Paul, dessen Partnerin Camilla, die zu Jans, aber auch zu Katharinas Geliebter wurde, an Pauls Tod bei einem gemeinsamen Segeltörn, Jans Flucht vor den unverarbeiteten Erlebnissen nach Kalifornien in die Arme von Iris, die mit dem viel älteren Freddie zusammenlebte. Jan fand dort eine Zeitlang Zuflucht, bis ihn sein Weg nach Freddies Tod, den man Iris zur Last legte, in das namenlose totalitär regierte Land führte, in dem er schließlich verhaftet wurde.

Diese Erinnerungsfetzen wechseln mit denen Katharinas, die in Peter Zimmermanns Roman Stille die der Hauptfigur Jan gegenübergesetzte Perspektive einnimmt. In ihren Rückblicken offenbart sich neben dem Trauma des sexuellen Missbrauchs, dem sie als Kind ausgesetzt war, und dem Verlust des ungeborenen Kindes von Camilla (wobei die Vaterschaft ungeklärt blieb) ihr ganz eigener Blick auf die Geschehnisse und Beziehungen. Sie trifft nach Jahren der Unsicherheit über Jans kommentarloses Verschwinden Camilla wieder, die inzwischen in den Besitz von Briefen Jans an Iris geraten ist, aus denen Katharina die Gründe für Jans Fortgehen und Erkenntnisse über sein weiteres Schicksal zu entnehmen hofft. Eine mysteriöse Zufallsbekanntschaft, die sich Katharina als angeblicher Zeuge ihrer Verstrickungen aus der Vergangenheit zu erkennen gibt, soll ihr dabei helfen.

Allen handelnden Personen in diesem Buch scheint nicht wirklich klar, wer sie selbst eigentlich sind – wie können sie da erwarten, ein wirkliches Bild von den anderen zu bekommen? Und der Leser kann es auch nicht. So wirken die Figuren bei aller Mitteilsamkeit, die sie an den Tag legen, rätsel- und schattenhaft und sind nicht selten von einer öligen Ungreifbarkeit. Zimmermann stattet sie mit Namen, Eigenschaften, Erinnerungen aus, die diesen Eindruck noch verstärken. So ist Renny Harlin beispielsweise auch der Name eines finnischen Filmregisseurs, der u. a. einen der größten Hollywoodflops aller Zeiten landete, und der Harlin des Romans, eine der Hoffnungen Katharinas, etwas über die Gründe des Verschwindens von Jan zu erfahren, entpuppt sich – zumindest in ihren persönlichen Wahrnehmung –  als Blender, der Katharina vor allem für die Abgabe seiner eigenen Lebensbeichte missbraucht. Wie zuvor schon auf Jan wirkt Katharina auf ihn offenbar wie ein Katalysator zur Selbsterforschung. In immer wieder aufflackernden Gedicht- und Songzitaten von Keats und Byron bis hin zu E.L.O. und zahlreichen aphoristischen Kommentaren („Der Witz ist eine späte Frucht des toten Baumes“, S. 99) spiegeln sich die jeweiligen Empfindungen des Romanpersonals, erzeugt Zimmermann die Atmosphäre einer von Ernüchterung und Trauer geprägten Lebens- und Erlebenswelt: „Ich spreche von einer Leere, mit der Sie Ihr Leben beginnen und die sich mit den Jahren nicht auffüllt, nie, verstehen Sie das?“ (S. 113).

Doch Zimmermanns Stille ist mehr als ein Hohes Lied auf den Lebensekel, als den man ihn vordergründig lesen könnte. Die Figuren schütten sich gegenseitig in scheinbar aus dem Zusammenhang gerissenen Erlebnissen und Reflexionen ihr Leben vor die Füße, für den Leser setzen sich aus den Schrecknissen von Kindheit, Jugend und Krieg, aus dem eigenen Schuldig-geworden-sein, aus sexuellen Episoden, Träumen und Traumata nach und nach Biografien zusammen, die irritieren und abstoßen, später faszinieren und den Leser schließlich in jenen magnetisierten Zustand versetzen, der gute Literatur auszeichnet: ein Stoff und eine Erzählweise, die den freien Radikalen der Leserfantasie die Möglichkeit zum Andocken gibt, das Buch hineinreichen lässt in das eigene Erfahrungsspektrum.

Freilich wird kaum eines der Rätsel gelöst, die Beweggründe der handelnden Personen und viele Kausalzusammenhänge bleiben dem Leser letztlich verborgen: „Es stellt sich keine Frage, die sich nicht schon unzählige Male gestellt hat. Und Antworten […] waren sowieso nicht zu bekommen“ (S. 158). Was bei weniger begabten Autoren wie eine Kapitulation vor den selbstgelegten Fallstricken der Handlung wirken kann, wird dem Leser bei Zimmermann zur Generalmetapher für das permanente Versagen, das Leben selbst verstehen zu können, weil dieses Verstehen nicht formuliert werden kann. So heißt es von Katharina: „Sie hätte lachen können, plötzlich, weil sie intuitiv meinte, etwas begriffen zu haben, etwas, das in ihrem Verstand keinen Platz hatte, einen möglichen Zusammenhang, der die Ereignisse der vergangenen Monate nachvollziehbar hätte machen können, wenn es dafür eine Sprache gegeben hätte“ (S. 182). So erschließt sich dann auch, als eine der möglichen Lesarten, der Titel des Buches als Synonym für die Sprachlosigkeit.

Überhaupt wohnt Zimmermanns Stille von der ersten bis zur letzten Seite ein So-aber-auch-anders-sein-Können inne, welches das tatsächliche Geschehen auf kryptische Weise kaschiert. Zimmermanns Technik, Handlungsablauf und Erinnerungen fließend ineinanderzufügen, kommt dieser Absicht sehr entgegen. In einem der Briefe an Iris kommt Jan zu der von Katharinas Ansicht abweichenden Erkenntnis: „In Wirklichkeit sind die Fragen längst beantwortet. Nichts lässt sich abwaschen“ (S. 171). Am Ende bleibt folgerichtig offen, ob Jan und Katharina fern voneinander in ihren eigenen physischen Tod gehen oder nicht – in einer letzten angedeuteten, eher wohl nur imaginierten, jedoch fast telepathisch anmutenden Verbindung über Zeit und Raum hinweg zwischen beiden klingt gar die Möglichkeit einer Rückkehr zu glücklicheren Tagen an, die ja in Wahrheit nichts als Wunschdenken und Tagtraum sein kann: „Aber ich wusste, dass er wiederkommen würde. […] Es ist so banal, wie ich es schreibe. Alle Liebesgeschichten sind banal. Am wichtigsten ist: Es wird so sein wie früher“ (S. 212).

Wer sich von einem Roman einen aufs erste Anlesen aufzunehmenden Handlungsstrang, klar umrissene Figuren und einen vom östlichen zum westlichen Horizont reichenden Spannungsbogen erwartet, wird mit Stille nicht viel anzufangen wissen, verpasst mit Peter Zimmermann aber auch eines der eher dünn gesäten wirklich vielschichtigen Erzähltalente deutscher Sprache dieses Jahrzehnts.

Peter Zimmermann Stille.
Roman.
Zürich: Secession Verlag, 2013.
224 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-905951-23-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 01.10.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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