In einer Notiz zur Arbeitsweise und zum Programm schreibt der Autor: „Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten. […] Dennoch handelt es sich um eine Fiktion, weil dieser Roman keine wahre Geschichte nacherzählt, sondern eine solche vergegenwärtigt, sie aus der Tiefe der Zeit in die Gegenwart holt. […] Mich interessierten die Lücken, die davon erzählen, wie und warum Angst, kollektive Hysterie, Haß, Gewalt und Gewaltbereitschaft entstehen können und wohin sie den Menschen bringen können. Diese Lücken sind frei erfunden.“ (S. 301)
An seiner obersten Schicht ist dieser Roman eine spannende Kriminalgeschichte um einen Justizirrtum. Aus den Akten wird der sogenannte Ritualmord von Polna rekonstruiert, in der Nähe der Provinzstadt an der böhmisch-mährischen Grenze soll 1899 ein Jude eine junge Frau ermordet haben. Vernehmungsbeamte, Journalisten, verstockte Augenzeugen und angeheuerte Meinungsmacher produzieren jenen Stoff, der in der Hauptstadt gelesen werden will. Die Story ist eine Vorläuferin jener US-Sagas, wo aus Washington immer hohe Polizisten in den Sumpf des Südens fahren, um ein Rassendelikt aufzuklären.
In der Nacht hinter den Wäldern ist diese Geschichte viel verzwickter, weil österreichischer und bürokratischer. Die Protagonisten versinken bei ihren Erkundungen physisch im Schlamm und bewegen sich angeekelt durch das schroffe soziale Gelände hinter den Wäldern. Unvergeßlich ist jene Stelle, wo sich ein Beamter über die durch Kot verunreinigte Unterwäsche des Opfers lustig macht, in dieser Szene treten die sozialen Hierarchien quasi mit einem Satz aus der Unterwäsche heraus ins staatstragende Tageslicht. Im Lande Kafkas geht ein angefangener Prozeß unaufhaltsam seinen Gang, auch wenn es in die falsche Richtung geht. So wird der auserkorene Jude schuldig gesprochen und erst Jahrzehnte später gesteht der wirkliche Täter.
In diese Kriminalgeschichte hinein ist die Identitätsfrage verwoben: Wer ist der Erzähler während des Erzählens? Im ersten Drittel ist der Erzähler emsig, er hat eine starke Phantasie und nutzt Ansichtskarten und Bildbände zur Entwicklung einer plastischen Story. Mit der Zeit allerdings löst sich der Erzähler in der eigenen Story auf, er transzendiert im Bauch der Stadt mitten im Antiquariat, das er zum Quellenstudium aufgesucht hat. Ähnlich wie bei Jorge Luis Borges (der übrigens just in dem Jahr geboren wurde, in dem der Mord bei Polna geschah) wird die Bibliothek zum Universum, der Erzähler im Antiquariat verfällt in einen Zustand der erzählenden Agonie, gegen die ihn selbstverständlich die Ärzte gar nicht oder nur falsch behandeln können.
Quer durch den Roman zieht sich schließlich so etwas wie die Frage nach der Humanität in einem größeren Staatsgebilde. Einerseits spricht selbst in der entlegensten Gegend der Volksmund die Sprache des Herrn Karl, andererseits sinniert das höhere Proletariat im Kaffeehaus über die Tatsache, daß jedes Individuum in der klebrigen Masse des ganzen Staatsgebildes aufgesogen wird. Staatstheorie ist immer auch eine Theorie der Kriminalität, weshalb der Kriminal-Beamte der Archi-Beamte ist, befaßt er sich doch täglich mit Leben und Tod, Schuld und Sühne, Glanz und Elend der Wahrheit.
Peter Zimmermanns Roman ist rasant in der Handlung, betulich genau, wenn es um die österreichische Amtsseele geht, und gerecht, ohne besserwisserisch zu sein. Vielleicht sollte man diesen spannenden Roman wörtlich verfilmen und im Hauptabendprogramm eines österreichischen Nationalfeiertages einsetzen, so lange es diesen noch gibt.