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Die Ukrainerin

Josef Winkler

// Rezension von Marietta Böning

Mitten im Kriegsgeschehen 2022 in der Ukraine erscheint unter dem Titel Die Ukrainerin. Njetotschka Iljaschenko erzählt ihre Geschichte eine erweiterte Neuauflage von Josef Winklers Werk Die Verschleppung: Njetotschka Iljaschenko erzählt ihre russische Kindheit von 1983. Bereichert wurde der Roman um ein Vorwort des Autors, ein Nachwort von dessen französischem Übersetzer Bernard Banoun sowie um Briefe, die Hapka Davidowna Iljaschenko aus der Ukraine an ihre Tochter Njetotschka in Kärnten schrieb.

1918 gegründet, wurde die Ukraine 1922 unter Trotzkis Bolschewiki zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR). Jetzt, wo die Ukrainer:innen den Holodomor endlich beim Namen nennen dürfen (seit 2006 wird die Verleugnung unter Strafe gestellt), jenen Hungersnot-Genozid Anfang der 1930er-Jahre, den Stalin an den Ukrainer:innen, insbesondere den Bauern, im Zuge der Zwangskollektivierung verübte, lesen wir die Geschichte von Njetotschka vielleicht noch aufmerksamer als beklemmendes Zeitdokument einer im Zweiten Weltkrieg kriegsgefangenen und nach Kärnten verschleppten jungen Frau. Sie erzählte Josef Winkler ihre Kindheitsgeschichte vom beginnenden Stalinismus bis in die Kriegszeit, ihre Verschleppung als Zwangsarbeiterin unter den Nazis; und sie erzählte auch die Geschichte ihrer Mutter Hapka Dawidowna Iljaschenko. Winkler schrieb mit und nahm auf und entfaltet an diesen zwei Schicksalsschlägen ein zeitliches Panorama der sozialpolitischen Situation der Bauern in der Westukraine über zwei Generationen hinweg.

Zu diesem Buch kam es, als Josef Winkler sich vom Sommer 1981 bis zum Herbst 1982 bei Bauern in der Nähe seines Heimatdorfes Kamering einquartierte, um an seinem Manuskript Muttersprache zu arbeiten. Njetotschka, damals Bäuerin und die Ehefrau des Sohnes jenes Paares, das sie 1943 als Vierzehnjährige zur Zwangsarbeit aufgenommen hatte, gab ihm eine Herberge. In der folgenden Zeit entwickelte sich eine ergiebige Beziehung: Sie konnte erzählen, was sie früher nicht gedurft hätte: Niemand, der sie unter Strafe stellte, wenn sie die Gräuel beim Namen nannte, vor allem aber interessierten die Ereignisse in Kärnten nun auch jemanden und dieser jemand qualifizierte sie nicht als „Russenmenscher“ ab. Für Winkler „rentierte“ sich diese langanhaltende Bekanntschaft mehr als nur beruflich. Ein Stück weit scheinen die Beiden wie Wahlverwandte, die aufeinander projizieren, und sie (tatsächlicher Name: Valentina Steiner), die Fremde unter den Kärntner Bauern, war es, die Winkler, der selbst wie ein Fremder unter seinen Leuten ging, dazu bewegte, den Anschlussroman Der Leibeigene im Frühherbst 1982 in seinem Zuhause bei den Eltern zu verfassen, wie der Autor 2004 in einem Interview mit literaturkritik.de sagte.

Das erste Wort im vorliegenden Buch lautet „Mama“. Dem Vorwort Winklers ist ein Zitat von Andrej Platonow vorangestellt: Ein Mädchen bangt um das Dasein der Mutter, um das Alleinsein. Es geht um Leben und Tod und speziell um das Bedürfnis nach der Sicherheit und Geborgenheit gebenden Mutter. Und dies ist auch das Thema von Njetotschkas Geschichte abseits aller historischen Überlieferung und beispielhaften Schicksalhaftigkeit. Die enge Bindung der Mutter an ihr Kind scheint durch das ganze Buch hindurch. Ihre enge Verbundenheit, die emotionale Abhängigkeit, wenn die Mutter ins Spital musste oder lange weg war, um zu arbeiten, das kleine Kind allein bleiben und von Hunger gequält warten musste; und die Zerrissenheit, als Njetotschka und ihre Schwester Lydia wieder einmal als Kriegsgefangene abgeholt wurden, es ihnen dieses Mal aber nicht gelang abzuhauen und zur Mutter zurückzukehren. Das Leid der Mutter, ihre Lieben zu verlieren, thematisiert Winkler auch in seinen Texten Muttersprache und Mutter und der Bleistift. In der niedergeschriebenen Erzählung Njetotschkas ist diese Mutter-Kind-Beziehung nun manifestiert. Weil sie weiß, was Aufgeschriebensein bedeutet, scheint es nur verständlich, dass Valentina zuerst daran denkt, das Manuskript Muttersprache zu retten, wenn sie Sirenen hört und ihr in den Sinn kommt, das Haus könnte brennen.

Der Verlust ihrer Muttersprache ging bei ihr mit der physischen Auslöschung der Heimat einher. Sie stammte aus einem Dorf am Ufer des Dnjepr bei Tscherkassy in der Westukraine. Das Dorf musste in den Jahren 1959 – 1961 dem Bau des Krementschuker Stausees weichen. Njetotschka wuchs an der Front auf. Von ihr als Zeitzeugin zu erfahren, wie es war, zwischen Schüssen und Soldaten auf Feldern zu arbeiten, wie die Kriegsgefangenentransporte vor sich gingen, wann und wie gefoltert wurde, und dass es einem als verschleppte Zwangsarbeiterin besser gehen kann als im Heimatland, ist informativ und quälend.

Josef Winklers Roman verstärkt die Entsetzlichkeit ihres Schicksals parallel zu seinem eigenen, das Schicksal ihres Dorfes parallel zu dem seines Heimatdorfes Kamering, denn auch hier gibt es gewisse Ähnlichkeiten: beide, sie und er, waren immer die Außenseiter. Und sie verstärkt die Dringlichkeit des Erzählens, Aussagens, Sprechens für die Mütter, die nichts mehr sagen konnten. Ihre Mutter hatte kein Sprachrohr, Winklers eigene Mutter schien zu verstummen, wie der Autor immer wieder beschrieb. Sein Elternhaus bezeichnet er als sprachlose Welt. Seine Prosa aber lebt bekanntlich von ausschweifenden Denkbewegungen, präzisen und mannigfachen Bildern. Bekannt ist auch sein Stilmittel der Repetition von Aussagen seiner Protagonist:innen durch sein Werk hindurch. Solche Wiederholungen von bestimmten Erlebnissen finden wir auch in der Erzählung Njetotschkas (und vielleicht nennt er sie ja deswegen nicht Valentina Steiner, weil sie nur durch seine Worte spricht). Sie haben nicht den Gestus der Beschwörung, dienen also nicht der Expression von etwas Wichtigem, sondern sind Wieder-Holungen von Impressionen und Erlebnissen der Erzählenden. Wir sind diese Varianten des Gleichen von Winklers anderen Büchern gewohnt, in denen es um seine eigene Geschichte geht. Oft sind diese Themen traumatisierungstauglich: Leid, Elend, Tod, auch hier. Die Ereignisse werden wachgerufen und, wenn in ihnen eine Ungeheuerlichkeit schlummert, wiederholt. Zum Beispiel wenn Njetotschka vom Kannibalismus im Holodomor erzählt.

Winkler selbst fragte sich in einem Interview mit Günter Kaindlstorfer für den Büchereiverband Österreich 2014, ob sein Schreiben vielleicht so etwas wie das ausgeformte Schweigen seiner Mutter sei. Bedenkt man seine Angst, selbst sprachlos zu werden in den Jahren, da er sich seinen Kummer in und mit Kamering aus der Seele schrieb, und in die sein Roman Die Verschleppung hineinfällt, dann ist diese so paradoxe wie ambivalente Aussage vielleicht konsequent. Jedenfalls passt dazu, dass Winkler im Elternhaus nach seinem Aufenthalt bei der „Starzer Vale“ (Valentina Steiner) bzw. auf dem Hof ihres Mannes die Sprache wiedergefunden habe. Dass die Mutter der Valentina/Njetotschka nunmehr im O-Ton in Briefen der Neuausgabe mitspricht, ist vielleicht als leiser Wunsch zu bewerten, diesen erschütterten Müttern die Sprache wieder zu geben. Ein weiteres Indiz hierfür ist, dass das Buch ein Porträt der Mutter Hapka ziert, nicht der Tochter Valentina.

Die Ukrainerin. Njetotschka Iljaschenko erzählt ihre Geschichte.
Mit einem Vorwort des Autors und einem Nachwort von Bernard Banoun.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022.
332 Seiten, broschiert.
ISBN: 978-3-518-47234-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 20.12.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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