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König, Hofnarr und Volk

Andrea Winkler

// Rezension von Eva Maria Stöckler

„Ich bin aufgenommen, ja, aufgenommen.“ (S. 10), mehr noch: Auserwählt wurde Lina Lorbeer, am Institut für Gedankenkunde und Verstehen in die Lehre zu gehen, ein Ort, an dem sie lernen wird, ein nachdenkender Mensch zu sein, ein Ort, an dem sie lernen wird, den Dingen auf den Grund zu gehen und das Wesen der Worte zu ergründen, ein Ort, an dem sie verstehen lernen wird. Aber dass Denken und Verstehen nicht nur mit Leichtigkeit und Freude verbunden sind, sondern aus Entsagung und Überstunden, Schweißausbrüchen, Verwirrung und Albträumen bestehen, ahnt sie bereits.

Allein in ihrem leeren Zimmer, dessen einziger Schmuck ein Gedicht an der Wand ist, beginnt sie ihre Gedanken auf die Reise zu schicken, durch das Fenster hinaus auf die Straße, durch die halbe Stadt an den Stadtrand, zum Eislaufplatz, durch die Allee zu ihrem Zimmer zurück, immer in Begleitung fremder und eigener Gedanken, fremder und eigener Figuren, die sich eigene Träume erschaffen und Linas Welt zwischen Hörsaal und Bibliothek, Zimmer und Straße bevölkern. „Vergessen Sie in diesem Zusammenhang allerdings auch die Freunde nicht“, rät ihr Herr Professor Icks, „ja, ja, die Freunde!“ Freunde wie Flora Tauber und Justin Tander und vielleicht Jakob, dem sie in ihren Briefen vom Leben am Institut berichtet, jenem fernen Jakob, der zur Reflexionsfigur ihrer selbst wird, um so mehr, als sie sich zunehmend in den fremden und eigenen Gedanken zu verlieren beginnt und am Ende – entsprechend dem Eingangszitat aus Georg Büchners Woyzeck – nur mehr mit einem Gedankenstrichel „–“ als ihrem Namen unterzeichnen kann.

Wie der König, der seinem Hofnarren befiehlt, sich einen Knoten in sein Taschentuch zu binden, damit er sich an sein Volk erinnere, lässt Andrea Winkler ihre Figuren durch fremde Erinnerungen reisen, durch ferne Gedankenwelten und an seltsame Orte, verliert sie, findet sie wieder, lässt sie los und holt sie ein. Das Denken, das Leben, das Lieben am Institut für Gedankenkunde und Verstehen zerfällt zwischen einander widersprechenden Gedanken, zieht sich zurück auf die – im wortwörtlichen Sinne – stillsten Orte: „Ist’s nicht wundersam und schön, dass von den Menschen am Institut für Gedankenkunde und Verstehen die Liebe am Klo gemacht wird?“ (S. 103).

Die Sprache des Romans ist Ausdruck des widersprüchlichen und verdrehten Denkens der Menschen und bildet ihre Oberflächlichkeit in sinnlosen Redewendungen, leeren Floskeln, abgenutzten Metaphern und unbrauchbar gewordenen Sprichwörtern ab. Nicht den Dingen auf den Grund zu gehen und das Wesen der Worte zu ergründen, ist der Zweck des Institutes, sondern den Sinn der Dinge zu verdrehen und das wenige Verständliche noch mehr zu verschleiern. Hinter den Worten verbergen sich nicht mehr Bilder der Wirklichkeit, weil auch die Gedanken, aus denen die Worte formuliert sind, nicht mehr die Bilder der Wirklichkeit wiedergeben können. Die Worte als Verbindung zwischen den Gedanken und der Wirklichkeit, das Gedankenstrichel, das „Ja und wieder Ja – und Nein“ (Georg Büchner: Woyzeck), ist gerissen, gebrochen, und anstatt diese Verbindung wieder herzustellen, versuchen die Professoren Icks und Stein den Riss zu übermalen, zu überdecken, zu verdecken, als ob dahinter keine Plattheiten und Oberflächlichkeiten, sondern das große Geheimnis warten würde.

„‚Haben Sie nachgedacht, Lina Lorbeer? Wollen Sie in meine Dienste treten und ein wenig tiefer blicken?‘ Ich senke die Augen und finde am Boden nicht ein einziges Staubkörnchen. Vom Sand rede ich gar nicht mehr.“ (S. 94) Als Lina überlegt, in Frau Professor Steins Dienste zu treten, wird ihr bewusst, dass sie selbst kaum mehr Worte für ihre Gedanken findet, und sucht in neuen Worten neue Bilder für die Wirklichkeit und einen neuen Zugang zur Welt: Höffnung für Hoffnung, Sühnsucht oder Sinnsacht für Sehnsucht (S. 107).

Ähnlich wie die Sprache des Romans un-, doppel- und mehrdeutig ist, sind auch die in dieser Sprache gezeichneten Bilder voller Symbole: das leere Zimmer, in dem Lina klare Gedanken fassen kann, die Lampe, die sie erleuchtet, die sich im Fenster widerspiegelnde Frau als ihr eigenes Ich usw. Einzig die Briefe an Jakob, jene Reflexionsebene, die fast alle der 25 Kapitel beschließen, bleiben klar und konkret, erzählen von den Ereignissen, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen der Ich-Erzählerin Lina und sind damit der notwendige Anker, um in den labyrinthischen Wendungen der Sprache nicht verloren zu gehen, einer Sprache, die längst schon ihr eigenes Leben führt und mit ihrem Rhythmus, ihrer Musik längst schon ihre eigene Welt erschaffen hat.

König, Hofnarr und Volk. Einbildungsroman.
Wien: Zsolnay, 2013.
192 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-552-05600-8.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 01.04.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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