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#Prosa

Tote im Text

Herbert J. Wimmer

// Rezension von Birgit Schwaner

(K)ein Krimi als Sprachspiel

„der autor spielt ernsthaft und entschieden mit der Sprache, die unablässig mit ihm spielt, ihn sicher im lebenslangen spiel des erfassens, erfühlens, erkennens, erschreibens hält.“ Herbert Wimmer formulierte diese Beschreibung seiner schriftstellerischen Tätigkeit anlässlich seines im Frühjahr 2015 bei „Klever“ erschienenen Gedichtbandes Wiener Zimmer. Der Verweis auf das ernsthafte Spiel, das der Schreibende mit der Sprache ebenso wie die Sprache mit ihm treibt, bliebe allgemeingültig ohne das Wort „entschieden“. Es meint hier nicht nur das Bewusstsein des Autors, sondern auch die Konsequenz, die er daraus zieht und die ihn – wer Wimmers Arbeit kennt, weiß es – in die aktuelle Nachfolge der europäischen Avantgarden und im speziellen der „Wiener Gruppe“ rückt. In die Reihe derer, die nicht an die eingängigen Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts anknüpfen und dabei Lesern die Illusion einer zweifelsfreien, noch als „Ganzes“ narrativ erfassbaren Welt (bzw. eines Weltausschnitts) vorspiegeln.

Die Rolle der Sprache, die Gedanken ebenso „ausdrückt“ wie generiert und als Instrument des Schreibenden diesen zugleich zu ihrem Instrument macht, wird in der Literatur Herbert Wimmers stets mitreflektiert. Diese Eigendynamik im Blick interagiert der Autor mit seinem Text; er reagiert mit spielerischer Freiheit auf einzelne Worte, Silben oder Laute, Redewendungen oder Metaphern und variiert (d.h. auch: hinterfragt) die Begriffe z.B. mittels Assonanzen und Assoziationen, Para- oder Anagrammen. Was bedeutet: Der Text überrascht uns mit einfallsreicher Sprunghaftigkeit, was die Sprache hergibt.

In diesem Sinn sind Titel und Untertitel von Wimmers aktuellem Prosaband Tote im Text. Thriller – eine Irritation programmatisch zu lesen: als Spielversuch mit den Motiven und der Personnage des Kriminalromans, der – beim Offenhalten aller Möglichkeiten – bei einem wesentlichen Moment verharrt: der Irritation. Frei nach Nietzsche ist der Mensch ein Tier, das zum Existieren Erklärungen braucht und nicht zur Ruhe kommt, ehe man ihm kausale Begründungen präsentiert. In dieser Hinsicht ist der Tod ein Problem: Für ihn gibt es keine Erklärung. Lediglich für seine Ursache: Alter, Unfall, Krankheit … oder eben, besonders aufregend, Mord und Verbrechen. Der Kriminalroman ist üblicherweise abgeschlossen, sobald die Täter – Einzelpersonen oder Organisationen und Institutionen, die, wie in der Realität, nicht stets zur Rechenschaft gezogen werden – aufgespürt und enttarnt sind.

Das Chaos, das mit dem Verbrechen in die Welt eintrat, ist nun wieder beseitigt – aber nur scheinbar, kann man jetzt widersprechen, die eigentliche Irritation bleibt, wie die Existenz des Todes oder die Tatsache, dass Menschen einander morden. Unsere Erleichterung, das Abfallen der Spannung, wenn der Mörder verhaftet wird, fußt auf einer Erklärung, die von der unerklärbaren Frage ablenkt. Herbert Wimmer schreibt einmal verballhornend „Kau-Saal“, möglicherweise auch als Anspielung auf das Wiederkäuen der stets gleichen (kausalen) Muster im Kolportagekrimi unserer Tage. Ähnlich wie – und doch auf ganz andere Weise als – Gertrude Stein in Blood on the Dining-Room-Floor dehnt auch er den Augenblick des Verdachts aus und nutzt die sich einstellende Wachsamkeit seiner Leser, um ihre Aufmerksamkeit nicht nur zu halten, sondern umzulenken. Das Verbrechen wird zum Angelhaken, der den Leserfisch in andere Gewässer zieht, die im Ozean der Sprache münden …

Das in Wimmers Buch geschilderte Verbrechen fand auch in der Realität statt: ein spektakulärer Mord im austrofaschistischen Österreich, begangen an einem Geschwisterpaar, beide Funktionäre der katholischen Kirche. Genretypisch konfrontiert uns bereits der zweite Absatz auf der ersten Buchseite, in schreienden Versalien und regieanweisungsknapp, mit diesen beiden Toten im Text und ihrer baldigen Finderin, einer Novizin:

„BRUDER UND SCHWESTER LIEGEN IM GRAS. DER BISCHOF UND DIE ÄBTISSIN LIEGEN TOT IM GRAS DES KLOSTERGARTENS. DAS BLUT IST SCHWARZ WIE DIE NACHT. LANGSAM WIRD ES HELL. DIE NOVIZIN SCHLÄFT IN IHRER ZELLE.“

Voraus geht diesen Zeilen jedoch ein Abschnitt mit einer völlig anderen Szenerie, einem anderen Setting: der Anfang des Buches, kursiv übertitelt mit den Worten „wird schon werden„. Danach heißt es: „sei glücklich, sagt wer“, und es folgt der Hinweis, dass niemand „entscheiden“ müsse, ob die Stimme des oder der Sprechenden einem Geschlecht zuordenbar sei, ob sie fremd klinge oder eher vertraut. Denn: „plötzlich einsetztender lärm eines hervorragend restaurierten 1955er chevy two-ten handyman station wagons überlagerte mögliche wiederholungen“.

Die beiden, duch eine Leerzeile getrennten Abschnitte sind im Inhaltsverzeichnis zusammengespannt als das erste von 167 gleichgearteten, aufeinanderfolgenden Mikrokapiteln, aus denen das Buch montiert ist. Wobei jeweils ein kursiv übertitelter und in Kleinschrift gesetzter Abschnitt von einem in Versalien abgelöst wird und, im Großen und Ganzen, erstere jeweils für die „erzählerische Reflexion“ stehen und zweitere sich mit dem erwähnten Verbrechen befassen.

Die großgeschriebenen Abschnitte für sich genommen, hintereinander weggelesen, berichten davon, was auf den Mord an Bischof und Äbtissin folgte – leicht ließe sich mit ihrer Hilfe ein klassischer Kriminalroman entwickeln; freilich, wie gesagt, einer ohne beruhigende Aufklärung (der historische Fall wurde ebenfalls nie gelöst). So erfahren wir, dass die zwei arg zugerichteten Leichen an der Pforte des Klostergartens von einer Novizin gefunden werden, der einzigen im Kloster anwesenden Person, die zur Tatzeit schlief. Dann treten „Kriminaler“ auf, die die falschen Verdächtigen verhaften, weil sie doch irgendwie passen, das politische Umfeld wird berücksicht, die Dorfbewohner, das Trauma der Novizin, die irgendwann aus dem Kloster austritt und heiratet, Kinder bekommt, auf die sich dieses Trauma überträgt … bis irgendwann sich niemand mehr an das Verbrechen erinnern wird. Nur der Text hält am Moment des Schreckens fest, erwähnt das Blut, die Hiebe, das zerhackte Fleisch immer wieder, als gäbe es kein Vergessen, und kein Sich-Fassen.

Dennoch: So weit, so stringent. Doch dieses, fast chronologisch geordnete Berichten wird ja, von Anfang an, unterbrochen von den anderen, in Kleinschrift gehaltenen Passagen. Schon der Anfang verdeutlicht ja mit dem Hinweis auf einen Chevrolet „Handyman“, Baujahr 1955 die Distanz: Hier befindet man sich auf einer anderen Ebene, vielleicht im Kopf des Autors, dessen Denken und Wahrnehmen (teils wie im stream of conciousness) sich den verschiedensten Dingen zuwendet und dennoch, als Verbindung zu der vor seiner Geburt begangenen Gewalttat das „Kriminal-Thema“ umkreist, sich ihm immer wieder reflexiv und assoziativ annähernd, sich entfernend, wieder näherkommend.

Unter anderem tritt zum Beispiel ein Detektivin auf, die der Autor in die verschiedensten Situationen versetzt. Man liest von zwei männlichen Figuren namens Ray Flux und Jake McCoy, die einander kennen und später mit der Detektivin eine menage à trois eingehen, oder auch nicht. Ebenfalls eine größere Rolle spielt das Lokal „SPIEGEL“, das zu Anfang renoviert und dann häufig frequentiert wird – ein „Nomen est Omen“-Ort, demgemäß die am Tresen abhängende und beobachtende Detektivin weder einen Fall noch Aufklärung findet: Was sie wahrnimmt, wird, wie der Text für Leser und Autor, zum Spiegel: reflexiv, kein Entkommen, keine Erlösung.

Immer wieder begegnen wir Anspielungen auf Filme und Filmsequenzen, oder Gedanken des Autors zu seinem Beruf, zum Text. In diesem Zusammenhang scheint auch das urbane Umfeld des Schreibenden und Wörter und Satzfragmente Sammelnden auf; so etwa die 1991 vom Künstler Lawrence Weiner auf dem Flakturm im 6. Wiener Bezirk (heute „Haus des Meeres“) angebrachten und, als Fußnote zu den Toten im Text passenden Worte: „mashed to pieces (in the still of the night)“. Ferdinand Schmatz übersetzte damals: „Zerschmettert in Stücke (im Frieden der Nacht)“. Herbert Wimmer macht daraus, in einer freieren Übertragung und der Zeit des „politisch starren“ Austrofaschismus gemäß: „ZERHAUEN IN STÜCKE, IM STILLSTAND DER NACHT“.

Und daneben, quasi als unmittelbare Reflexionen, all die schnellen Wortspiele – überraschend sinnfällig wie beim Aphorismus „nichts ist, wie es bleibt“ oder selbstironisch wie im Abschnitt „auf autopilot geschaltet“, wo die Titel bekannter Schlager, Popsongs und Western verballhornt werden: „meine heimat ist der text / meine sehnsucht sind die worte“, „i can’t get no satisfaction, testisfraction, textilection“, „zeichen pflastern seinen weg“.

Summa summarum handelt es sich bei Tote im Text um ein geistanregendes, kurzweiliges Werk; als improvisiere ein belesener Meister seiner Kunst auf seinem Instrument, der Sprache, frei zum Thema Kriminalroman. Mal launisch, mal tiefsinnig, stets klarsichtig und mit genug Löchern im stets ablenkenden Schleier der Sprache, um uns zu zeigen, dass es hier auch tatsächlich um Tod und Leben geht – unser Dasein, die Lebenszeit von Autor und Leser. „sei glücklich, sagt wer“ heißt es am Textanfang. Am Ende liest man dagegen:

„sei glücklich. // DAS ENDE IST SCHRECKLICH. / DAS ENDE IST UNBEFRIEDIGEND. / DAS ENDE IST SCHRECKLICH UNBEFRIEDIGEND.“

Tote im Text. Thriller – Eine Irritation.
Wien: Sonderzahl Verlag, 2015.
141 Seiten, gebunden.
ISBN 978 3 85449 433 1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 27.10.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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