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Innere Stadt

Herbert J. Wimmer

// Rezension von Martin Reiterer

Verbesserte Auflage, das hört sich für ein literarisches Werk seltsam an, als ob Verbesserungen beispielsweise eines Romans nicht (oftmals) wünschenswert oder überhaupt möglich wären. Die Vorstellung, oder zumindest das Eingeständnis, ein an die Öffentlichkeit gelangtes literarisches Produkt könnte sich durch konkrete Eingriffe verbessern, scheint verpönt, es impliziert das Eingeständnis von Fehlern oder Unvollkommenheit. Dies deutet indirekt darauf hin, wie tief im allgemeinen Sprachgebrauch und kollektiven (Unter)Bewusstsein das Verständnis von einem organischen Kunstwerk verankert ist, das bei Lichte betrachtet aufgrund seines Geniekultverdachts doch eher als obsolet erachtet werden würde.

In diesem Sinne lässt sich Herbert J. Wimmers Bezeichnung „verbesserte auflage“ implizit als ironisches Statement lesen. Denn die tatsächlichen „Verbesserungen“ oder Veränderungen der vorliegenden Auflage halten sich eher im Rahmen des Üblichen, wenn es zu einer Neuauflage kommt. Finden kann man Absatzänderungen, vereinzelt auch einige kleine Einfügungen, wenn man danach sucht. Ein Kommafehler beispielsweise, den ein abgeneigter Kritiker der Erstauflage 1991 dem Autor heftig zum Vorwurf machte, ist hier behoben (S. 113). Hübsch ist die ironische Konzession an die Aktualität, die der Roman macht, indem er die Währungsunion mitmacht, und die Schilling- durch Eurobeträge ersetzt. Desgleichen ins Auge springt die Einführung der Kapitelzählung (1 bis 67), die die Einheit der einzelnen Abschnitte äußerlich unterstreicht, zugleich aber auch ein pragmatisches Moment erfüllt: Sie erleichtert den Verweis auf die einzelnen Tracks auf der CD. Und das ist schließlich eine wichtige Neuerung: 20 Kapitel des „Romans“ werden hier gelesen; neben dem Autor hört man die Stimme des Verlegers (Dieter Bandhauer), von AutorInnen- und anderen KollegInnen (Barbara und Friedrich Achleitner, Siegrun Appelt, Elfriede Gerstl, Hans Langsteiner, Gerold Tagwerker und Konrad Zobel). Dies zeigt nicht allein, wie sehr sich die Texte zum lauten Vortragen eignen, die CD macht als Sample auch ein zentrales Bauprinzip des Romans anschaulich: das der Montage. Die Kapitelfolge ist daher eine weitgehend offene, die Elastizität des Romangenres funktionalistisch, und wie sich für das Sample einzelne Kapitel herausnehmen lassen, kann man dem Romanganzen auch neue Kapitel hinzufügen. So ist das „39. kapitel“ denn auch völlig neu.

Als Montageroman reiht Wimmers Innere Stadt : Roman also Einzelteile aneinander, die sich zwar locker seriell miteinander verzahnen, als Fragmente oder Splitter eines Ganzen wahrgenommen werden können, dennoch aber je für sich lesbar bleiben. Diese Intention deutet auch Wimmers Veröffentlichungspraxis an: So sind eine Reihe von Einzelkapiteln aus dem Roman bereits in den 1980er Jahren in verschiedenen Zeitungen (u.a. vor allem in der Wiener Kulturzeitung Falter) erschienen.

Entscheidend für die Romanstruktur ist die Orchestrierung unterschiedlicher experimenteller Verfahren und Methoden, die eine Auseinandersetzung etwa mit der Schreib-Tradition der „Wiener Gruppe“ offenkundig machen. Der Autor treibt hier sein Spiel bis ans Äußerste, einzelne Textstellen sind gleichsam als Nachstellungen zu Textpassagen von Konrad Bayer unverkennbar. Spannend macht Wimmers Unternehmen, dass er diese Verfahren, die er freilich virtuos beherrscht, auf die Stadt und die sich in ihr abbildenden Bewusstseine anwendet. Als Abbreviatur ist dieses Vorhaben bereits im Titel annonciert: „Innere Stadt“ verweist nicht allein auf den so bezeichneten ersten, zentralen Wiener Gemeindebezirk, womit sich der Roman als Wien- und Stadtroman ankündigt. Das Stadtinnere deutet zugleich eine Schicht an, die zumindest unter der Oberfläche liegt und Assoziationen mit dem Untergrund scheinen nicht fehl am Platz. So wird damit auch der Schauplatz des Bewusstseins und der verschiedensten Bewusstseinsabläufe angesprochen. Und tatsächlich ist die Bezeichnung Innere Stadt für das Bewusstsein, das für sich schon an die Komplexität des städtischen Gefüges erinnert (dieses teils ausmacht und teils reflektiert), ein großartiges Bild.

Entsprechend stehen hier nicht so sehr einzelne handelnde Figuren im Zentrum, vielmehr sind es Figurensplitter oder umgekehrt -kontraktionen. Das (post)moderne (groß)städtische Individuum wird hier als Schnittpunkt verschiedenster Einwirkungen, auch als Verschnitt wechselnder Bewusstseinszustände und -abläufe, ja sogar unterschiedlicher Bewusstseine dargestellt bzw. nachskizziert. Die Romangestalten, etwa blaunsteiner, der als ein Alter Ego des Schriftstellers angesehen werden kann, oder anna und otto, herr keese und lamerana, sind so etwas wie figürliche Versuchsanordnungen. Wimmer zeichnet sprachlich die Momente ihrer Vermischung, des Ineinandergeratens, der Überblendung, Überlappung oder der Selbstbegegnung nach. Blaunsteiners „pulsierendes“ Bewusstsein etwa wird dann sichtbar als eines „in dem sich die welt unaufhörlich ausdehnt und zusammenzieht“. Die Figuren gehen buchstäblich ineinander über: „[…] loretta taucht auf, wird zu einem aspekt blaunsteiners, der als lamerana ein aspekt lorettas ist, der hauptsächlich in annas bewusstsein vorkommt.“ Irgendwann „wird sich herr keese von lamerana abspalten und nach dem blaunsteineraspekt suchen.“ Zwischendurch „erkennt sich (blaunsteiner) in einer glasscheibe als blaunsteiner wieder.“ Identität und Identitätsproduktion stellt sich als Zufall heraus, oder als Gewohnheit, als Bequemlichkeit. Ihre Auflösungs- und Transformationsprozesse führen bisweilen zu geschlechtlichen Unentschlossenheiten, etwas im Kino: „der/die beobachter/in lamerana schöpft sich das beobachtete ins hirn, die kontrollierten kurzschlüsse der identifikation setzen ein. er/sie erkennt sich in ihm/ihr, weil ihm/ihr gar nichts anderes übrigbleibt.“ „da verweilt er/sie noch etwas in der geschlechtlichen unentschlossenheit. dann identifiziert er/sie sich aus bequemlichkeit mit dem eindeutigen blaunsteiner.“

Die Hauptthemen des Romans, die soziale Verteilung und Zusammensetzung der Individuen, ihre zeitweise Auflösung in benachbarte Bewusstseine, in entfernte Traum- und Bewusstseinszustände, ihre Transformation und Eingliederung in die laufenden strukturbildenden Prozesse ihrer (städtischen) Umgebung, ihre Verwandlung in die Dinge und Objekte ihres Umfelds, sind stets eng mit der Reflexion der Sprache oder auch des Schreibens verkoppelt. Das Auseinanderdriften von Sprache, Bewusstsein, Körper, Innen und Außen führt zu unterschiedlichen Situationen der Verdinglichung, die der Autor seinen LeserInnen in witzig unterhaltsamen Passagen zu einem Lesevergnügen macht. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr die Position des Schreibenden auch eine Gratwanderung darstellt. In dem neu hinzugefügten Kapitel 39 mit dem Titel „blaunstein/er/satzautomat“ kommt diese Ökonomie und Entropie einer Bedrohung des Schreibenden zur Sprache. Blaunsteiners fantastischer Satzautomat, die Schreibmaschine und das Schreiben selbst, das ihm als Reflexionsmaschine dient, sind zugleich Ersatzautomat, der Blaunsteiner zu ersetzen droht, indem er sich verselbständigt. „die wörter kommen, die sätze, blaunsteiner liegt fast auf der olivetti, schon purzeln die sprachbrocken über die hände und die sinnreiche mechanik der maschine aufs papier und über die augen wieder zurück ins hirn, aber da liegt blaunsteiner schon wieder fast auf der olivetti und die sinnreiche mechanik der maschine schlägt buchstabe um buchstabe aufs blatt und blaunsteiner schaut sich mit seinen augen fast direkt ins hirn, das ja ihm gehört, das bewusstsein, das zu blaunsteiner ich sagt, dort im schädel, […] schon knallt die sinnreiche mechanik der maschine den ausstoss in die welt, die pausenlos auf die sinnesorgane zurückfeuert.“

Innere Stadt: Roman.
Nachworte von COOP-himmelblau.
2. explikative und verbesserte Auflage.
Wien: Sonderzahl, 2002.
125 Seiten, broschiert. mit beigelegter CD.
ISBN: 3-85449-036-4.

Rezension vom 01.07.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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