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Der Riss

Christine Wiesmüller

// Rezension von Eva Maria Stöckler

Paul, 18 Jahre alt, ist „außerordentlich intelligent, machte, was man von ihm verlangte, und bewältigte den Alltag mit einer nachlässigen Selbstverständlichkeit, wirkte dabei immer gelangweilt, wissend, dass er den Anforderungen entsprechen konnte.“ (S.11) Paul steht kurz vor der Matura und ist Dressurreiter, aber während der Vorbereitung auf die Jugendeuropameisterschaft stürzt er mit dem Fahrrad und verletzt sich so schwer, dass er wochenlang im Krankenhaus liegen muss. Ein Antreten bei der Meisterschaft, das Reiten selbst, scheint damit unmöglich geworden zu sein.

Karl, der Vater, Richter, todkrank, ist für Paul oft unerreichbar, dennoch „fühlte er sich in der Ruhe, die der Vater ausstrahlte, geborgen.“ (S. 22). Nach einem Krankenhausbesuch bei Paul erleidet er einen Schwächeanfall, lässt sein Leben, seine Familie, vor allem aber den Beginn der Beziehung zu seiner Frau Franziska noch einmal vor seinen Augen auferstehen und stirbt.

Franziska, die Mutter, deren Talent für eine Karriere als Pianistin nicht gereicht hatte, „war von schlanker, schmaler Gestalt. Ihre langen Beine steckten in spitzen Schuhen mit kleinem Absatz. Meistens trug sie eng anliegende Röcke, die knapp bis unter das Knie reichten und pastellfarbene Pullover mit passender Weste oder Jäckchen.“ (S. 15). Überragend ehrgeizig und herrisch verheimlicht sie ihrem Sohn tagelang den Tod des Vaters und das Begräbnis und zwingt alle Verwandten dazu, Stillschweigen zu bewahren, im Bewusstsein, ihren Sohn damit vor Aufregung zu schützen und die Heilung beschleunigen zu können. Einzig Pauls älterer Bruder Jakob, der sich schon früh aus den Fängen der Mutter befreien konnte und nach Amerika gezogen war, kann mit der Lüge nicht leben und berichtet dem von Vorahnungen geplagten Jüngeren vom Tod des Vaters. Allein dieser Vertrauensbeweis lässt die beiden Brüder, deren Beziehung jahrelang belastet war, wieder zueinander finden.

Nachdem Franziska nach dem Tod ihres Gatten das gesamte Haus umgebaut hat, beginnt sie gegen den Rat der Ärzte Paul zur Teilnahme an der Meisterschaft zu überreden, was ihr – nach einer kurzen Auflehnung Pauls, der ihr wegen ihrer Lüge böse ist – auch gelingt. „Eines Tages, in einem unbedachten Moment, stieg er auf das Pferd und flog davon. […] Ein unüberbietbarer Ritt, ein Triumpf. Die Mutter hatte gewonnen. Ein Sieg, der den Herzensgrund aufriss, der eine Kluft öffnete, die nicht mehr übersprungen werden konnte.“ (S. 190). Paul packt daraufhin seine Koffer und verlässt gemeinsam mit seinem Bruder Jakob das Haus.

Innerhalb einer kurz umrissenen schemenhaften Rahmenhandlung um eine alles beherrschende, tyrannische Mutter, einen schwachen Vater und einen Sohn, der die jahrelange Unterordnung in einem zwiespältigen Akt der Selbstbefreiung beendet, erinnert sich Karl kurz vor seinem Tod an seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, Männern, die Opfer ihrer Beziehungen, ihrer Mütter, ihrer Frauen geworden sind, weitergegeben von Generation zu Generation. Eine Familie im Sterben.

In diesem Roman ist alles Fassade: die Häuser, die Gärten, die Salons und Foyers, aber auch das Aussehen, das Verhalten, die Gefühle der Menschen. Man beschäftigt sich mit der Vorbereitung von Empfängen und Konzerten, trifft Großgrundbesitzer und Festspielleiter, umgibt sich mit Künstlern und Musikern. Aber nichts davon ist echt, ist wahrhaftig, die Szenerie ein Klischee einer bürgerlich-saturierten Gesellschaft voller Lieblosigkeit und Oberflächlichkeit, die auch durch eingestreute pseudo-theologische Dialoge nicht tiefgründiger wird, eine Oberflächlichkeit, eine Klischeehaftigkeit, die auch in der Sprache der Menschen, in der Sprache der Autorin (und leider auch im unaufmerksamen Lektorat) voller überbordender Attribute wirksam wird und damit das strukturelle Ebenbild der Erzählhandlung bildet.

Der Riss.
Roman.
Wien: Passagen Verlag, 2013.
192 Seiten, broschiert.
ISBN 9783709200285.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 01.07.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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