#Prosa

Sommerfrische

Christine Wiesmüller

// Rezension von Martina Wunderer

„Ich habe nicht verstanden, was Max vorhin meinte“, wandte sich Alexander an Anna.
„Es ist ganz einfach“, sagte Anna.
„Dann erklär es doch.“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Das geht nicht. Das Nicht-Sagbare ist eben nicht sagbar.“

Sommerfrische. Die Stille, die Hitze, die Langeweile, die Müdigkeit eines schwülen Ferientages auf dem Lande. Dort verbringen Anna, ihr Schwager Max und der Hausfreund Alexander die Sommermonate. Und Marianne, die Mitwisserin. Sie sorgt für den Haushalt, seit Jahren schon, und als einzige kennt sie die Familiengeheimnisse, sie versteht die Stimmen, vermag die Botschaften zu entschlüsseln, die durch das Haus geistern. „‚Wer ruft?‘, fragte Anna in die Stille hinein.“

Wie jedes Jahr beherbergen sie in ihrem Landhaus Sommergäste: Arabella, die Manische, den Buchhändler, den Zeitungsleser, den Blinden und den Katzenjäger. Sie weilen in dem Zwischenreich des Wahnsinns, die Verbindung zu den anderen, den Unversehrten, ist endgültig gekappt. Es führt kein Weg zurück. „Nur nicht nach den Sommergästen fragen“, sagte Josef, als Anna ihn kennen lernte. Seit zwei Jahren sind sie nun verheiratet, und sie hat nie gefragt. Sie hat Josef nichts zu fragen und nichts zu sagen. Sie missverstehen sich auch schweigend. Josef betrügt sie, Anna weiß es und schweigt. „Sie müsste mit Josef reden, sonst würde das Erschreckende die Oberhand gewinnen, eines Tages. Ob Josef auch erschrak, ob er Träume hatte?“

„Max, wo bist du?“ „Ich bin hier, Anna.“

Max schreibt seit Jahren an seiner Doktorarbeit über Flaubert, er schreibt über das Nicht-Schreiben-Können, über die Arbeit am Werk und die Gefahr des Scheiterns.
Alexander, der Freund, der Eingeweihte, spielt Klavier, als ginge es um sein Leben. „Er spielte, ununterbrochen. […] Seine Todesmusik!

Und Anna? „Depression ist Schwerstarbeit, mein Lieber.“

Zu Tode erschrocken, traurig, verloren und schrecklich einsam sind die Figuren in Wiesmüllers Erzählungen. Aufeinander bezogen und doch voneinander getrennt. Umgeben von Gefahren, bedroht vom Abgrund, von dem Schrecken, der unter der Oberfläche lauert, den lauernden Stimmen ausgeliefert. Nur Nachts, im Traum, umgeben von Gespenstern und beschützt von Engeln, fühlen sie sich sicher, schöpfen Kraft für den Tag, halten mühsam die Balance.

Doch als Josef ankündigt, am Wochenende aus der Stadt zu kommen und Gäste mitzubringen, wird das fragile Gleichgewicht empfindlich gestört.

Quadratur des Kreises oder ein Fragment. Die junge Wissenschafterin Felicitas trifft auf einer Preisverleihung den Schauspieler Ludwig. Zufällig fällt ihr Blick auf ihn, wie er in der Menge steht, und als er ihren Blick erwidert, ist sie erschüttert.

„Felicitas erschrak. Er. Beide. Sie und er.“
„Eine Ungeheuerlichkeit.“

Sie lässt sich erfassen von der plötzlichen Erregung, kommt sich selbst abhanden und verbringt die Nacht mit dem Fremden. Am nächsten Morgen reisen sie ab, als wäre nichts geschehen. Felicitas stürzt sich wieder in die Arbeit. Sie soll die nachgelassenen Tagebücher eines berühmten Autors herausgeben, doch kurz vor dem Abschluss des Projekts taucht zufällig ein weiterer Briefwechsel auf, weggesperrt und vergessen in den Kellern der Bibliothek. Und „die Briefe führten in ein anderes Leben, als das Tagebuch es zeigte.“

Ein anderes Leben, neu zu entdecken, neu zu erschreiben. Ein unendliches Unterfangen. Auch Felicitas‘ Leben hätte vollkommen anders verlaufen können. Es war etwas geschehen, damals, im Hotel, Ludwig war ihr geschehen. Diese unerhörte Begebenheit blieb nicht ohne Folgen. „Ludwig war Schauspieler. Und Felicitas verwechselte das Leben mit der Bühne. Was für ein Verhängnis.“ Hinter dem Vorhang das andere Leben. Auf Briefpapier entworfen, erschrieben, Nacht für Nacht. Das eigene, lustlos, gelangweilt, verlebend verlebt. Denn es gibt kein richtiges Leben im falschen. „Geschriebene Küsse kommen nie an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken,“ schreibt Kafka an Milena. Felicitas Briefe an Ludwig bleiben unbeantwortet. Sie bleibt allein, in Gesellschaft der Gespenster.

Das Ungesagte, Unabgegoltene bleibt dem Leser aufgegeben. Wie eine wunderbare, seltsam leichte und traurige Melodie klingen Wiesmüllers Erzählungen lange nach. Eine Melodie, von der man nicht möchte, dass sie verklingt, weil man sich ohne sie noch viel einsamer fühlt.

Sommerfrische. Quadratur des Kreises oder ein Fragment.
Erzählungen.
Wien: Passagen Verlag, 2009.
216 Seiten, gebunden.
ISBN 9783851658927.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 09.11.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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