Grund genug, das „fröhliche Wohnzimmer“ ganz konkret und als solches, nämlich die Wohnung als Lebens- und als Kunstraum einer eingehenden Bestandsaufnahme und buchhalterisch genauen Inventur zu unterziehen. Zu diesem Zweck schicken Ilse Kilic und Fritz Widhalm ihre literarischen Alter-Egos Jana Brenessel und i.g.Naz, bekannt aus ihrem bald vier Bände umfassenden Verwicklungsroman – Dieses Ufer ist rascher als ein Fluss! (1999), Neue Nachrichten vom gemeinsamen Herd (2001), 2003 – Odyssee im Alltag (2003), Zwischen Zwang und Zwischenfall (2005) – los, um den Lebens- und Arbeitsraum der AutorInnen Ilse Kilic und Fritz Widhalm, während diese auf Urlaub in Griechenland sind, erzählerisch zu kommentieren.
Angeregt von der voyage autour de ma chambre von Xavier de Maistre aus dem Jahr 1794 lautet die Aufgabe für Jana Brenessel und i.g.Naz, die acht Räume des fröhlichen Wohnzimmers in einer achtzig Tage dauernden Forschungsexpedition zu erkunden – Wohnraum als autobiographischer Reflexionsraum, Wohnen als Spurensuche in den Sedimenten der Lebensläufe und Begegnungen. Und die Reise um die Wohnzimmerwelt bringt Schätze zu Tage, die auf den 172 Seiten des Buches gar nicht alle untergebracht werden können, obwohl die Reisedokumentation reichhaltig mit Abbildungen versehen ist und die beigelegte CD dazu einlädt, die Songs und Klanginstallationen der Wohnzimmerband sowie von Jana Brenessel und i.g.Naz, die im Buch angesprochen werden, selbst anzuhören.
Am Beginn des Reiseberichts ist eine kartographische Skizze der Wohnzimmerwohnung aufgezeichnet, die an Robert Louis Stevensons Treasure Island erinnert: Im Uhrzeigersinn und galaktisch spiralförmig unterteilt sich das fröhliche Wohnzimmer in ein Vorzimmer, auf das der größte Raum, das Fritz- und Gästezimmer (Wohnzimmer des fröhlichen Wohnzimmers) folgt, dann das Ilsezimmer, das Schlafzimmer, die Küche, die DK (Dunkelkammer), das Bad und das WC. Schritt für Schritt, Einrichtungsgegenstand für Einrichtungsgegenstand, Buch für Buch wird die Wohnung vom Expeditionsteam akribisch durchmessen, hohe Kasten- und Regalwände werden durchstiegen, am Ende eines jeden Forschungstages wird mit einem Schlafsack an der Stelle der jeweiligen Tageswegstrecke das Basislager aufgeschlagen.
Sukzessive konturiert sich die Wohnlandschaft als mentale Landschaft, als Raum der Erinnerung und Wiederentdeckung, aber auch als Neuland, an das sich die Figuren Jana und Naz aus der Erzählerdistanz vorsichtig anzunähern versuchen. Durch die logbuchartige Niederschrift wird aus dem Wohnraum schließlich ein Sprach-Raum, eine literarische Dokumentation, ausgehend von einer Vielzahl einzelner kleiner Fundstücke und ihrer Geschichte, wie zum Beispiel einem Schmirgelpapier, das von der Wohnzimmerband als Instrument verwendet wurde (S. 13). Privates wird veröffentlicht und gestaltet sich damit zu einem Archiv, einer – um mit Jacques Derrida zu sprechen – Konsignation, einer Versammlung von Zeichen.
Und es ist äußerst vergnüglich, in diese Zeichenversammlung einzutauchen: Mit Jana Brenessel und i.g.Naz begegnen auch der Leserin und dem Leser viele interessante Bücher von Konrad Bayer bis Gertrude Stein, Musik von Marc Bolan über Kevin Coyne bis Tiny Tim, Zeitschriften wie die „zeitschrift für alles“, herausgegeben von Dieter Roth, Comics, darunter „krazy kat“ von George Herriman oder „No Hope“ von Jeff Levine (vgl. S. 97) sowie viele Bilder, Videokassetten und Filme. Alles ist sorgfältig alphabetisch geordnet, sogar die Schreibutenslien finden nach dem Farbspektrum aufgereiht ihren Platz. Das lässt an den Schweizer Psychologen Hans Aebli und seinen Satz „Denken ist das Ordnen des Tuns“ erinnern. Allgegenwärtig ist das Schwein, „wahrzeichen und glücksbringer der edition“ (S. 57), nicht nur in Plüsch, Porzellan oder Plastik tritt es den beiden Forschungsreisenden auf Schritt und Tritt entgegen, auch herdenweise als „blechschweine, brotteigschweine, fimoschweine, …“ (S. 141).
Die Monade der eigenen vier Wände ist mindestens so abenteuerlich wie die große weite Welt und auch genauso spannend, zumal wenn sich viele schöne Sachen, deren Wert weit jenseits des Materiellen liegt, dort ansammeln. Das ist ein Schluss aus der Lektüre, ein weiterer der, dass ein Kunstprojekt, eine Lebenshaltung wie das fröhliche Wohnzimmer für die Literatur essentiell und unverzichtbar ist.