#Roman
#Prosa

Wien ist nicht Chicago

Christine Werner

// Rezension von El Awadalla

Gmünd, Kleinstadt im Waldviertel, an der Grenze zu Tschechien ist ein eher vergessener Ort; interessant heutzutage bloß für EsoterikerInnen, die in der Umgebung Kraftorte und magische Steine besuchen.

„Riesensteine, Wahrzeichen dieser Gegend, moos- und farnbewachsen, türmen sich auf. Schilder mit Aufschriften wie ‚Märchenwald, Mystisches Waldviertel‘.“ (S. 61)

Ausgerechnet nach Gmünd zieht es eine in den USA geborene Frau, deren Verwandtschaft aus Österreich kommt und nicht ganz klare Beziehungen zur Waldviertler Kleinstadt hat. Diese Unklarheiten will die Reisende beseitigen. Von Wien aus macht sie ihre Expeditionen ins Waldviertel. Ihre Beziehung zu dem Mann, mit dem sie in Wien zusammenlebt, wird immer unklarer, eine Trennung ist greifbar. Gleichzeitig klärt sich die Beziehung, die ihre Familie zu Gmünd hatte. Vieles geht aus alten Briefen und Tagebucheintragungen hervor, manches klärt sich in Gmünd selbst: in Gesprächen mit Leuten, die sich noch erinnern können, mit dem Bürgermeister: „Gut, Sie haben Informationen über die Mahlers, aber ich hatte ja keine Unterlagen, hätte sie mir auch nicht beschaffen können. In jeder Stadt gab es Opfer, leider Gottes.“ (S. 81) Sie besucht die Orte des Geschehens. Dazu gehören das ehemalige Wohnhaus der Familie, das, was vom Betrieb noch übrig ist, Barackenlager, in denen 1944 ungarische Juden untergebracht wurden: „Ausgezehrte Körper, von Kälte, Hunger und Typhus zu Hunderten dahingerafft. Noch heute existiert die Eisenbahnschiene, die zum Abtransport der Leichen genutzt wurde. Sie mündet in den Bahnhof der Franz-Josefs-Bahn, und gegenüber beginnt das bürgerliche Gmünd.“ (S. 62)

Erinnern können sich die Leute an die jüdische Familie Mahler, der ein großer Betrieb in Gmünd gehörte. Dieser wurde arisiert und die Familie floh über Frankreich nach Amerika. Die Nachfahrin forscht und fragt nach, unermüdlich, ist gleichzeitig in Gmünd und bei den Aufzeichnungen der Vertriebenen: „Als wir wieder ins Hotel zurückkommen, warten zwei Herren von der Immigration, die uns auffordern, die Koffer zu packen und nach Europa zurückzureisen. Unsere deutschen Freunde hier und die Hotelbesitzerin nehmen weinend von uns Abschied. Das Entsetzen ist so groß, daß wir darüber gar nichts empfinden. Zum zweiten Mal räumen wir die nasse Wäsche in die Koffer.“ (S. 125)

Christine Werners auf Fakten beruhender Roman widmet sich einem noch immer nicht aufgearbeiteten Kapitel österreichischer Geschichte. Ihre fiktive Ich-Erzählerin bringt einige Klarheit in das Geschehen nach der Machtübernahme der Nazi, findet einiges heraus über Arisierungen, über die plötzliche Verhaltensänderung der Gmünder Bevölkerung gegenüber der früher wohlgelittenen Unternehmerfamilie. Gleichzeitig nimmt sie Stellung zu den aktuellen politischen Geschehnissen um sie herum, webt Tagebuchaufzeichnungen der Geflüchteten aus der Nazizeit und persönliche Erlebnisse zu einem dichten, aber entwirrbaren Zeitbild zusammen.

Der Titel Wien ist nicht Chicago bezieht sich auf die politischen Parolen der FPÖ ab 1998, auf das politische Klima im allgemeinen, das auch die Bombardierungen im Kosovo guthieß.

Als „große aber bedrückende Prosa“ bezeichnen die Oberösterreichischen Nachrichten den Roman.

Wien ist nicht Chicago.
Roman.
Linz: Resistenz, 2000.
253 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85285-040-1.

Rezension vom 26.09.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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