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Mara/ Mara

Johannes Weinberger

// Rezension von Georg Renöckl

„Die Angst. Das Geheimnis. Die immer im letzten, entscheidenden Augenblick eintretende Unmöglichkeit von Erkenntnis. Die Ahnung davon, trotzdem.“ Darum ging es Johannes Weinberger in seinen Erzählungen Schatzjagd und Ich zähle zornig meine Schritte und darum geht es wohl auch in Mara/ Mara, erschienen in der Reihe autorenmorgen des jungen Wiener Literaturverlags Luftschacht.

Die äußere Handlung des relativ kurzen Texts ist rasch erzählt: Ein Mann unbestimmten Alters kehrt einige Zeit nach dem Tod seiner Großeltern ein letztes Mal in deren Haus, in dem er aufgewachsen ist, zurück. Die meiste Zeit verbringt er am Schreibtisch seines „Kindheitszimmers“, wo er das Tagebuch seiner ehemaligen Nachhilfeschülerin Mara immer wieder aus der Schublade nimmt, auf den Schreibtisch legt und dann ungelesen wieder zurücklegt, um es schließlich in den frühen Morgenstunden einzupacken und damit in den Zug zu steigen, wo er es gegenüber dem Sitzplatz einer jungen Frau, die eventuell die erwachsen gewordene Verfasserin sein könnte, liegen lässt.

Die Erzählung dieser Handlung wechselt mit Passagen ab, in denen sich der Erzähler an die Zeit, die er mit Mara verbracht hat, erinnert. Die ständige Unterbrechung des Erinnerungsstroms durch das Öffnen und Schließen der Schublade lässt den Leser schrittweise immer tiefer in eine rätselhafte Vergangenheit stolpern. Mara, die der Erzähler durch einen Zufall kennen lernt, als sie fast dreizehn ist, scheint die Wiedergängerin ihrer kurz nach der Entbindung bei einem Autounfall verunglückten Mutter zu sein. Diese hieß ebenfalls Mara und starb gemeinsam mit einem ihrer offenbar zahllosen Liebhaber, worunter Maras Vater noch immer leidet. Auf denselben Autounfall wird auch an anderen Stellen des Texts in anderen Zusammenhängen verwiesen, und anfangs glaubt man sich daher einer mysteriösen Frau auf der Spur, die über eine starke, fast dämonische Anziehungskraft auf Männer verfügt und mehrere Schicksale beeinflusst hat.

Doch was mit einem Rätsel beginnt, wird mehr und mehr zum Verwirrspiel um die Identität der Frau, und nicht nur dieser. Von Seite zu Seite wird klarer, dass allein zeitlich irgendetwas nicht stimmt. Die Geschichte entwickelt sich zu einem Horrortrip Marke David Lynch, in dem die Grenzen zwischen verschiedenen Epochen der Vergangenheit und Kindheitsängsten, vor allem aber die zwischen den Figuren verwischt werden, wo Verstehen-Wollen sinnlos bzw. unmöglich gemacht wird und es letztlich egal ist, welche Mara jetzt nackt und mit einem Gürtel um den Hals auf dem Bett liegt, oder ob es sich dabei überhaupt nur um die Erinnerung an eine erotische Fantasie handelt. Da ist auch Platz für das eine oder andere etwas trashige Motiv: für tote Fliegen, die plötzlich auf den Rahmen von Fotos der „wie die Fliegen“ Verstorbenen kleben, oder Gruselszenen bei Begräbnissen.

Dass die verwirrenden Handlungsstränge ausgesprochen spannend zu lesen sind, liegt an der Virtuosität des eigenwilligen Erzählers, der in der genau konstruierten Geschichte seine Informationen nur häppchenweise preisgibt und seinen Lesern immer wieder das Gefühl vermittelt, dem Geheimnis um Mara auf der Spur zu sein, um sie dann entdecken zu lassen, dass sich die vermeintliche Lösung wieder einmal nicht ausgeht. Die beiden Ebenen – die Nacht im Haus der toten Großeltern und die Erinnerung an Mara – werden bis zum Schluss scharf voneinander getrennt. Nur die Präsenz des Tagebuchs und die frappierende Ähnlichkeit Maras mit einem Foto der Mutter des Erzählers verbinden Erinnerung und Realität.

Auf dem Weg zum Bahnhof holt den Erzähler dann seine (imaginierte?) Vergangenheit ein, berühren einander Traum und Wirklichkeit, was auch durch einen Wechsel des Erzähltempus signalisiert wird: Die Erinnerung, bis dahin im Perfekt erzählt, steht plötzlich im Präsens.

Bemerkenswert ist der Stil der Erzählung: Vom Ersticken, von Atemlosigkeit ist in diesem Buch oft die Rede, und dazu passen die endlos langen Sätze. Wenn es stimmt, dass in der Rhetorik der ideale Satz so lang sein soll, wie der Atem des Redners reicht, so droht dem lauten Leser von Mara/ Mara der gleiche Erstickungstod wie manchen der Protagonisten.

Wer aber ist nun Mara? Eine archetypische Männerfantasie, eine Art Eva oder Lilith, das Gegenstück zu Maria, deren Namen sie trägt? Ist sie die personifizierte Sehnsucht nach der früh verschwundenen Mutter? Erotische Projektionsfläche? Traum oder Trauma? Antworten darauf gibt der Text natürlich keine – „Unmöglichkeit der Erkenntnis im letzten, entscheidenden Augenblick“, davon war schon die Rede. So bleibt auch offen, ob die letzte Wendung des Buches, die letzte Erinnerung des Erzählers, die ihn schließlich selbst in die lange Reihe der Maras stellt, seinen endgültigen Wahnsinn andeutet oder nur einen Hinweis auf die Quelle der vielen Mara-Projektionen darstellt.

Man mag diese letzte Drehung der Schraube als eine zuviel empfinden, die Frage „Alles Mara oder was?“ drängt sich gegen Ende der Lektüre auf. Dennoch bleibt Mara/ Mara ein beklemmendes, faszinierendes Buch, dessen eigenartiger Reiz einen gefangen nimmt.

Mara/ Mara.
Wien: Luftschacht Verlag, 2004.
87 Seiten, broschiert.
ISBN 3-902373-06-07.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 28.09.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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