„Marilena weiß, es gibt Nächte, in denen sie sich verirren kann.“ Zunehmend durchziehen die täglichen Gedanken Marilenas die Ereignisse der Vergangenheit. Der Verlust der gemeinsamen Tochter, die Trauer, die sie fast zerbrechen ließ. Im Treffen mit Bjarki findet die Sehnsucht ihre Erfüllung, und ihr Familienleben gerät ins Wanken.
Während sich Marilena von ihrem alten Leben zu lösen beginnt und alles auf einen Aufbruch hindeutet, nimmt die Tante endgültig von diesem Abschied. Auch sie erinnert sich an ihre große, jedoch unerfüllte Liebe: „Regine denkt an Sebastian. In ihrer Vorstellung bleibt er jung. Das Ungezähmte in seinen Augen, die bedächtigen Hände. Hände, die eine eigentümliche Ruhe ausstrahlten. Die Weite in der Stimme und sein Schweigen. Sebastian war der Mann, für den sie alles gegeben hätten. Er heiratete eine andere. Die andere hieß Eva. Eva war Regines Schwester.“ Schmerz, Schuldgefühle, Scham und Angst begleiten die Loslösungsprozesse der beiden Frauen. Während Regine durch einen Schlaganfall ihre Sprache verliert, findet Marilena die ihre wieder. „Lange hatte Marilena Worte in sich eingeschlossen, obwohl sie übervoll von ihnen war. In Büchern hat sie sie aufgelesen, als seien sie heimliche Wegweiser. Indem Marilena wieder zu Bjarki findet, gelangt sie auch wieder in Beziehung mit sich und anderen. „Erstmal kamen die vielen Wörter, die sie in sich vergraben hatte, in Bewegung, sie schwangen in der Brust hin und her, wurden von der Zunge geformt und erreichten ein Gegenüber. Das Gegenüber antwortete in Gedichten und Liebkosungen. So wurde aus zwei Welten eine gemeinsame.“ So wie Worte trennen, können sie auch verbinden. Den oft dunklen und verwirrenden Gedanken folgen klare Taten. Marilena verlässt schließlich ihren Mann und geht mit ihrem Sohn nach Island zu Bjarki.
Parallel dazu erzählt die Autorin die dramatische Geschichte der jungen Afrikanerin Lelee, die das Leben von Regine und Marilena kreuzt. Aus Äthiopien geflüchtet, findet sie sich in Europa mit der Brutalität und Ohnmacht ihrer Illegalität konfrontiert. Ihr Kampf ums Überleben ist ein ganz anderer. Sie sehnt sich nach der Normalität, der Marilena überdrüssig geworden ist; eine Normalität, die sie nie in ihrem Leben erfahren hat. „Sie denkt an Marilena. Was für einen Segen sie hat. Leo quicklebendig. Der Mann bringt den Monatslohn nach Hause. Genug zum Essen. Marilena hat ein schönes Wesen. Wenngleich sie immerfort schwermütig zu sein scheint.“ Sie wird sich schließlich um dieder zum Pflegefall gewordene Tante Regine annehmen, während Marilena nach Island geht.
„Wir kommen aus unterschiedlichen Welten und müssen mit denselben Verlusten leben, denkt Marilena.“ Keine Lebenserzählung ist bedeutender als die andere. Kein Schmerz ist größer als der andere. Fremdheit auszuhalten und Andersartigkeit anzuerkennen, damit experimentiert die Autorin in ihren Texten. Wie bereits in ihrem Romandebüt Flora Beriot erzählt die 1971 geborene Bozener Autorin lebensklug Geschichten von Menschen, deren Vorstellungen vom Leben sehr unterschiedlich sind. Mit beeindruckender literarischer Sicherheit schlägt Unterholzner dabei für jede Lebensgeschichte den richtigen Ton an und vermag es, den Leser/die Leserin damit in Resonanz zu versetzen. Ihre Figuren berühren, wühlen auf und machen nachdenklich. Birgit Unterholzner kann erzählen und hat etwas zu erzählen, und das tut sie mit einer Leichtigkeit und Präzision, die eindrücklich und verzaubernd zugleich sind.