Das Phänomen der Schachtelwelten könnte man auch als einen Ausgangspunkt von Liesl Ujvarys Texten ansehen. Als Neophile, wie sie sich selbst bezeichnet, versucht sie freilich nicht, Löcher zu stopfen und Fugen zu verkitten. Vielmehr ist sie bestrebt, Ritzen und Öffnungen in den einzelnen Welten auszuforschen – wofür sie ein feines Sensorium besitzt -, um möglicherweise durch sie hinauszutreten aus einer Schachtel in eine größere Welt. Oder zumindest zur Abwechslung in eine andere – nicht schlechter bestellte – Schachtel.
„Als hätte man sein Leben in einer kleinen muffigen Kiste verbracht und sich darin fast wohlgefühlt, in Ermangelung besseren Wissens … und hätte dann ein kleines Loch entdeckt, eine Öffnung, diese vergrössert durch Herumbohren, bis ein immer grösserer Riss entstanden wäre, bis die ganze Kiste zerfallen wäre, und man heraustreten könnte in die kühle klare Bergluft, inmitten tiefen Tälern, seufzenden Wäldern, erhabenen Gipfeln, glitzernden Seen, funkelnden Schneefeldern und einem tiefblauen Himmel.“
Das Setting des Heimatromans, das hier verwegener Weise durchklingen mag, täuscht allerdings. Es ist bei Ujvary genau so wenig zu erwarten wie das eines – wie sie meint – in Österreich allzu verbreiteten negativen Heimatromans. Darauf deuten bereits die Titel der einzelnen Prosastücke des Bandes hin: „Bad Sector“, „Heavy Tools“, „Im Wahrheitsraum“, „Geheimsignale, Wortfolgen“… Sie lassen vielleicht auch schon einige der Themen erahnen, die der Autorin am Herzen liegen und durch den Kopf ziehen, bevor sie in ihren Texten verarbeitet, verwandelt und neu zusammengewürfelt auftreten. Sie umfassen unter anderem Fragen der künstlichen Intelligenz und Gehirnforschung, Theorien der Erforschung des Beobachters und Theorien der Wahrnehmung. Das Unternehmen insgesamt versteht sich als ein groß angelegtes und immer wieder neu organisiertes Wahrnehmungsexperiment, das unangefochtene Vorannahmen außer Kraft setzt, kontrollierte Spiele in ihrem Regelwerk stört. „Entspann dich, es ist an alles gedacht“, heißt es da zwar. Doch die Verunsicherung beim Leser und bei der Leserin wird immer wieder von neuem motiviert: „Die ganze Sache ist höchst illegal.“
Dass die Autorin ihre Texte Artefakte nennt, kann man kaum ernst genug nehmen. Hiermit ist nicht allein das Kunsterzeugnishafte ihrer Texte angesprochen. Auch die elektrotechnische Bedeutung des Begriffs als Störsignal oder die medizinische Bedeutung „einer meist mit einer Täuschungsabsicht verbundenen, künstlich hervorgerufenen körperlichen Veränderung (z. B. Verletzung)“ lässt sich für eine Charakteristik der Texte ausbeuten. Ihre Zwischenstellung zwischen politischem Essay, science fiction und Poesie, wie bereits im Klappentext angekündigt, ist dafür formal maßgeblich verantwortlich. Der Wechsel von essayistischer zu fiktionaler Schreibhaltung wird zur Gratwanderung. Auf diese Weise werden Erwartungshaltungen der Lesenden subtil, mitunter auch schmerzhaft gestört. Bilder werden evoziert, um sie im nächsten Augenblick wieder implodieren zu lassen. Genrewechsel ereignen sich als Übergang von einer Vorstellungswelt in eine andere, werden damit aber nicht irreversibel, behalten sich vielmehr etwas Changierendes. Das Modell der Schachtel reicht daher nicht aus, um die verschiedenen Überlagerungen von Zuständen und Überlappungen von Welten zu erfassen, die im Zentrum von Ujvarys Prosa stehen.
Darin ist auch die Ursache für die Komplexität dieser Texte zu sehen, die auf den ersten Blick aus einer einfachen, durchsichtigen Sprache mit vorwiegend parataktischen Strukturen bestehen: „Die Hälfte meiner Sätze kann in der Kronen Zeitung stehen!“ Paradoxerweise, so könnte man sagen, setzen sich die Kronen Zeitungs-Texte jedoch aus Schachtel-Sätzen zusammen und bewahren sich dadurch ihre Simplizität. Sie verbleiben sozusagen in einer Schachtel, während Ujvarys Sätze nicht nur ständig an ihren Außengrenzen kratzen, sondern gleichzeitig mehreren Ebenen angehören. „Zumindest schreibe ich keine Kronen Zeitungs-Texte“, so die Autorin bei einer Lesung.
Entsprechend sieht Ujvary etwa auch die Funktion des Schriftstellers in der Position eines Agenten, der zwischen den Welten vermittelt, wie sie es in einem anderen Zusammenhang ausgedrückt hat. „Vielleicht sollten wir Schriftsteller uns als Kontaktleute sehen, die sowohl in unserer grossen Welt leben können oder dürfen, als auch in den kleinen virtuellen Kunstwelten, die manche von uns in der Literatur entwerfen.“
„Natürlich besitzen wir alle einen gewissen ‚Spielraum‘ …“, heißt es in dem Text „Kontrollierte Spiele“. Doch was, wenn er sich etwas erweitern ließe?