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Hier ist Berlin

JM Stim

// Rezension von Martina Wunderer

Ich sitze in meiner Altbauwohnung in Berlin Mitte, hohe Decken, knarzende Dielen, erschwingliche Miete. Vom Balkon aus kann ich den Mauerstreifen sehen, an dem entlang sich Stolpersteine und Baukräne reihen, Symbole für die Vergangenheit und die Zukunft der geteilten und wiedervereinten Stadt. Gehe ich über die Straße, bin ich im Westen. Gewohnt habe ich immer im Osten.

Wannsee, Wrangelkiez, Mauerpark, Tempelhofer Feld, Berghain, ich war an all den Orten, die JM Stim (aka Klaus Stimeder) in seinem Essay Hier ist Berlin beschreibt, manche von ihnen gibt es schon nicht mehr. An anderen Orten, die den Ruf Berlins als „spannendste Stadt der Welt“ begründeten, war ich nie, es gab sie schon nicht mehr, als ich hierher zog. Laut denen, die kurz nach der Wende hier wohnten, waren sie damals unvergleichlich besser, die Kneipen und Clubs in den Kellerräumen und Hinterhöfen. Mit ihrem provisorischen Charakter passten sie gut zum neuen Berlin, wie Stim die Stadt nennt, die es seit 1989 gibt. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer, so Tim Mohr in seiner Einführung, war Berlin wie ein unbeschriebenes Blatt, das „das Chaos als treibende Kraft für das Gute begreift“.

Heute, über zwanzig Jahre später, ist Berlin wie ein Palimpsest, das Blatt wurde mehrfach überschrieben. Zum Beispiel der Boros-Bunker: 1942 wurde der „Reichsbahnbunker Friedrichstraße“ für die Zivilbervölkerung gebaut, nach 1949 diente er als Textilien- und als Lager für Südfrüchte. Nach der Wende wurde er als Veranstaltungsort für Techno- und Fetischparties genutzt, ehe er 2003 vom Industriellen Christian Boros erworben und für seine Kunstsammlung umgebaut wurde. Beim Rundgang durch die Ausstellung, die die Räume miteinbezieht, kann man die einzelnen Zeitschichten erkennen, die ehemaligen Schutzkammern, die Graffiti und Darkrooms. Sie schaffen einen kongenialen Kontext für die Installationen zeitgenössischer Künstler. „Immer gibt es mindestens einen Winkel, an dem das Auge freie Bahn hat, Orte freilegt, die nahe scheinen, aber in Wiklichkeit weit, weit weg sind“, schreibt Stim über die Stadt. „Anders als vor der Einsamkeit gibt es vor der Vergangenheit kein Entkommen in Berlin; es hat sich zuviel ereignet, als dass sie einen irgendwo in Ruhe lassen würde, die ältere und die jüngere und manchmal auch die zukünftige.“ Der Boros-Bunker bildet diese Erfahrung ab. Sie umfasst beide Dimensionen „Zeit und Raum“, sie sind „die Geschenke Berlins“ an seine Bewohner und Besucher.

Die Momentaufnahmen in Stims Buch beschränken sich auf „jene kurzen Stunden, in denen der Tag noch nicht vorbei ist und die Nacht noch alle Versprechen bereit hält. Das neue Berlin hat diese Tageszeiten zu seinem Wesen gemacht. Es ist zu einer Art von Versprechen geworden, für dessen Einlösung es immer eine Möglichkeit, aber niemals eine Garantie gibt.“ Berlin ist verlockend und abweisend zugleich, verführerisch und unzugänglich, liebenswürdig und gleichgültig. „Biografie einer sehr flexiblen Hure“ nennt Tom Liehr im Standard Stims Essay und vergleicht das Bestrickende Berlins mit dem Zauber einer Prostituierten, „die jedem Freier etwas bieten kann und trotzdem Spaß bei ihrem Job hat“. Eine solche Konstruktion der Stadt als weiblich semantisierter Raum steht in einer langen literarischen Tradition typisch männlicher Wahrnehmungsmuster. „Diese Stadt ist wie eine Frau. Du meinst, dass du sie besessen hast, enthüllt hast, ihr Stöhnen gehört hast, doch dann triffst du sie wieder, eine Woche später, und stellst fest, dass sie in keiner Weise derjenigen gleicht, die du dir zu eigen gemacht hast“, schreibt Federico Fellini über Rom, er hat der Stadt einen luziden Filmessay gewidmet.

Stim flaniert durch die Straßen Berlins wie im letzten Jahrhundert Fellini durch Rom und Benjamin durch Paris, durch diese „Landschaft aus lauter Leben gebaut“ (Hofmannsthal). Doch Rom, Paris, auch Wien, „diese bemitleidenswerten potemkinschen Dörfer“, sind Hauptstädte der Vergangenheit, zu Denkmälern erstarrt. Berlin dagegen ist eine Weltstadt der Gegenwart, „die sich allen Maßstäben entzieht“. Stim will sie sich erlaufen, erschauen, erschreiben bis in den entlegensten Winkel hinein. Als hellwacher, gescheiter und feinsinniger Beobachter lenkt er den Blick auf die Stimmungen, Stimmen, Gerüche, Farben und Töne der Stadt. Dabei interessiert ihn gerade nicht das Berlin der Museen und Sehenswürdigkeiten, der Szenekneipen und Hipsterläden, er weicht ab von den üblichen Pfaden der Berlin-Touristen und giert danach, die Stadt, die nie eindeutig und referentiell, sondern immer flüchtig und ambivalent ist, in all ihren Facetten zu erhaschen.

Hier ist Berlin oder vom Versuch, den Regen mit den Händen aufzufangen“, beschreibt Lier im Standard dieses unmögliche Unterfangen. Stims Verhältnis zu Berlin bleibt das eines Werbenden zu einer spröden, überlebensgroßen Geliebten, die letztlich nicht zu erobern ist. Gerade in ihrer Widerständigkeit liegt aber die Bedingung ihrer Freiheit, sie ist „der letzte Ort in der westlichen Welt, der alles zulässt, zu nichts zwingt und alles verzeiht“, „der letzte Exerzierplatz der gelebten Anarchie, ein amorphes Gemälde aus Fragmenten, die nicht ineinander greifen und deshalb auch kein Ganzes bilden können, eine Erzählung ohne Plot, mit einem Anfang, aber ohne Ende.“

JM Stim Hier ist Berlin.
Mit einer Einführung von Tim Mohr.
Wien: Rokko’s Adventures, 2012.
58 Seiten, gebunden, deutsch/englisch.
ISBN 978-3-200-02476-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 11.04.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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