Ein romantisches Märchen, das Hoffmann nicht nur zur Ergötzung seiner Leser schrieb, sondern auch für sich selbst: Aufforderung und Warnung zugleich, romantischen Überschwang nicht in haltlose Phantastik und orientalisches Kulissengeschiebe münden zu lassen, und doch in den Niederungen des Alltags nicht zu vergessen, daß Phantasie, Rausch, furor poeticus und Liebe Utopien sind, die wir „keck ins gewöhnliche Leben“ tragen sollten. Der große Traum der Literatur.
Ihn träumt auch Alexander Markowitsch, Wiener Literaturwissenschaftler und Romantikexperte, als er, längst in der Routine seiner universitären Laufbahn angekommen, eines Tages von einem flott hereinstürmenden Studenten Besuch erhält, der über „STC“ promovieren will. Weder von der dummforschen Art noch von dessen Schnellexegesen über Samuel Taylor Coleridge angetan (denn als selbiger stellt sich „Estisi“ heraus), will er ihn schon wieder hinauskomplimentieren – da taucht Anna auf, die schöne Begleiterin des Promovenden. Und mit einem Schlag ändert sich das Leben des Spezialisten für englische Literatur: Mit dem Promotionsprojekt Martins wird die eigene Vergangenheit wieder lebendig, als Romances nicht nur erforscht, sondern in Herz und Hirn ihren festen Platz hatten. Heute delektiert sich unser Held an deftigen Braten, kalorienreichen Nachspeisen und sündhaft teuren Weinen; weitere unerläßliche Lustquelle, die Zigarette. Und der Sex? – bei den etlichen Pfunden zuviel fehlt dazu das nötige Selbstbewußtsein. Doch die schöne Anna, mit der Markowitsch mal in absentia, mal im Beisein ihres Lovers uni-externe Treffen arrangiert, gibt ihrem Pferdchen Zucker, und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Der Liebesenthusiasmierte taumelt traumgeplagt in seine Obsession – doch, die Rettung naht in Form der Lindhorstschen Therapie: Lesen und Abschreiben als Reise zu sich selbst.
Wilfried Steiners Roman „Xanadu“ erzählt diese Selbstfindung, metaphorisch und als peregrinatio. Der Autor, selbst studierter Germanist und Anglist und im Verfassen von Liebesgedichten („Sieben Jahre Glück“) und wissenschaftlichen Untersuchungen („Zur gesellschaftlichen Relevanz zeitgenössischer Popularmusik“) – darunter eine Wissenschaftssatire („Scharlachflug“) – nicht weniger erfahren als sein Protagonist, entführt uns in eine magische Welt, bei der Gegenwart und Vergangenheit, Erlesenes und Erlebtes durcheinanderwirbeln. Coleridge und die englischen Romantiker liefern dabei die Schreibunterlage, der der Leser durch umfangreiche Exzerpte und viel literaturgeschichtliches Material hindurch folgen muß. Natürlich sind darunter Coleridges langer „Rime of the Ancient Mariner“ und das Fragment gebliebene Poem „Kubla Kahn“, das, so eine der vielen Legenden um den Autor, in einer Art Traumsession entstand. Coleridges annus mirabilis, 1797 – 1798, das Jahr seiner höchsten schöpferischen Produktivität, das genauso schnell, wie es gekommen war, in einem von melancholischen Lähmungen, von Laudanum-Absenzen und unglücklichen Lieb- und Freundschaften zerrissenen Leben versandete, bietet Stoff genug, um 200 Jahre später den von seiner Lektüre angeregten Wissenschaftler zu infizieren.
Vom Leser erfordert diese palimpsestartige Anlage einiges an Konzentration, will man – zumindest im ersten, dicht komponierten Teil – die vielen Erzählebenen und Zitate nicht übersehen (denn bei den Exzerpten Coleridges bleibt es nicht, auch Texte von Sebald, Borges, Chatwin u.a. werden einmontiert). Als schließlich selbst der Erzähler das Durcheinander nicht mehr aushält, nimmt er Reißaus und betreibt Feldforschung. Dort, an den Wirkungsstätten seiner Dichterkollegen, so seine Hoffnung, wird er nicht nur dem Geheimnis von Coleridges Studierzimmer auf die Spur kommen, sondern auch seiner Muse, Meduse, Liebes- und Todesgöttin Anna wiederbegegnen.
Markowitschs faustische zwei Seelen – der pedantische Wissenschaftler, der sich in trivialen Fußnoten ergeht, ungelenke Übersetzungen produziert und seine Leser mit seitenlangen Vorträgen über die englische Romantik strapaziert, und, auf der anderen Seite, der inspirierte Coleridge-Liebhaber, der uns wunderbare Paraphrasen über dessen Gedichte liefert, dieses doppelte Arrangement macht den Roman insgesamt zu einem zwiespältigen Gebilde: kunstvoll-anregende, essayistische Prosa, die jedoch genauso schnell in den Ton oberlehrerhafter Seminararbeiten (die sich kaum mehr als Mimesis der Wissenschaftler-Sprache deuten lassen) abstürzen kann.
Und, nicht nur Coleridge hatte sich mit dem Vorwurf des „plagiarism“ herumzuschlagen: Vor allem der zweite Teil des Romans (als Ganzes weniger überzeugend als der Anfang, der bereits letztes Jahr als Vorabdruck zu lesen war), welcher Markowitschs Fahrt in den Lake District, nach Devon und West-Sommerset beschreibt, ist in weiten Passagen konventionelle Reiseliteratur (der Bildungsbürger mit der Dichtung im Gepäck, die Banalitäten englischer Badezimmerarmaturen, die obligaten fish&chips), in der dann auch der Ton der Erzählung nicht mehr stimmt; statt Gedichtexegesen von lyrischer Eleganz Flapsigkeiten: die Zusammenarbeit Coleridges und Wordsworth‘ beim Entwerfen des „Ancient Mariner“ wird als eine „Art metaphysisches Schifferl-Versenken“ apostrophiert (S. 233) und eine Passage aus „Cristabel“ unter „www.lesbianpoetry.com“ abgespeichert.
Ein Krimi (wenn auch mit reduzierter Spannung) bleibt es doch, und so bekommt der Leser nach 287 Seiten, genau am Ende, die Lösung der Spurensuche. Ob allerdings für den Autor selbst Der Weg nach Xanadu ein Jahr der Fülle bedeutete, diese Frage zu beantworten verkneift sich der Erzähler. Aus gutem Grund, denn Anna, die mephistophelische Traumgestalt, hatte, wie wir nun erfahren, einen Pakt vorgeschlagen: ein annus mirabilis gegen lebenslange schöpferische Unfruchtbarkeit. Der letzte Satz lässt eine Entscheidung offen: „Genug geschrieben für heute“. Genug gelesen für heute.