#Roman

Azimut

Peter Steiner

// Rezension von Silvia Sand

Ein Weltenbummler ist die Hauptfigur des Romans so wie dessen Autor selbst. Der 1937 in Baden geborene Geologe Peter Steiner verarbeitet die Erfahrungen, die er rund um die Erde gesammelt hat, nunmehr schriftstellerisch. Azimut – ein Begriff aus der Landvermessung, vom Arabischen as-sumut, „die Wege“ – führt nach Afrika. Die Vitalität, mit der der Autor sich dem Leben in der Welt und auf der Erde gewidmet hat, ist in seiner Erzählhaltung wohltuend spürbar. Keine um sich selbst kreisende Nabelschau charakterisiert ihn, sondern der weite Blick über den Tellerrand.

Conrad verschlägt es durch Zufall nach Afrika, wo er an einem Straßenbauprojekt mitarbeitet. Wir schreiben das Jahr 1966, Conrad hat Frau und Kind in der Heimat zurückgelassen, sie werden bald mit dem zweiten, neugeborenen Kind nachkommen. Inzwischen sondiert Conrad das Terrain, fasst Fuß zwischen den französisch-schweizerischen und afrikanischen Mitarbeitern, richtet sein neues Zuhause ein. Die Macht der Elemente ist hier ganz anders spürbar als zuhause in Europa. Das Meer, an dem sein Haus steht, ist kein Freizeitvergnügen, sondern Bedrohung, die Hitze ist lähmend, der Regen erfrischt nicht, sondern überschwemmt. Dazu kommt das Gefühl der Einsamkeit, als Weißer in übergeordneter Position am Rande einer großen, in sich gespaltenen Gemeinschaft zu stehen. Conrads Blick erweist ihn als Praktiker und Realisten: er nimmt seine Arbeit in Angriff und betrachtet die Fremdheit der Umgebung mit respektvoller Neugierde. Der erste Teil des Buches ist mit „Über das Fremdsein“ betitelt. Peter Steiner erzählt bilderreich, ohne zu bewerten, vom schlichten Dasein der Menschen in gewaltiger Natur.

Im zweiten Teil „Über die Nähe“ rücken Elsa und die Kinder in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Symbiose, die Conrad mit ihnen bildet, drückt sich in der Tatsache aus, dass Dialoge innerhalb der Familie kaum wiedergegeben werden. Kraft und Entschiedenheit charakterisieren die Ehepartner und sind die Voraussetzung für das Abenteuer, dem sie sich mit ihren Kindern mitten im Regenwald aussetzen. Beide nehmen Natur und Menschen mit der Festigkeit des eigenen Standpunktes wahr, die nichts in Frage stellt. Die Veränderung der Natur auf dem Weg von der Küste in die Finsternis des Dschungels ist ebenso eindrucksvoll wie die spätere Übersiedlung der Familie in die Savanne. Über allem liegt die Harmonie zwischen den Ehepartnern, die die kleine Familie schützt und trägt. Die Erzählung, die zu Beginn das Projekt, die Arbeit im fremdem Land, Afrika selbst zum Thema hatte, verlagert den Schwerpunkt nun und vor allem im dritten Teil „Der Lauf der Dinge“ auf das Zwischenmenschliche. Von Heimatbesuchen wird erzählt, in denen die Heimat skurril erscheint, Conrad das, was er in Afrika erlebt, nicht vermitteln kann, sich unverstanden fühlt. Der Kontrast zwischen den Kontinenten wird offenbar, eine Verbindung erscheint unmöglich. Die Beziehung zwischen Conrad und Elsa, deren Kennenlernen, beider Vergangenheit, geprägt vom politischen Geist der 60er Jahre, wird dabei stückweise aufgerollt.

Im weiteren Verlauf taucht Afrika in den Hintergrund ab und wird zur Kulisse für eine erotische Beziehung zwischen zwei weißen Paaren, die sich unschwer gefunden haben. Die Geschichte des Begehrens wird einerseits möglich über die Idee der freien Liebe des europäischen Zeitgeists und andererseits durch die Auffassung von freier Sexualität, wie Conrad sie nunmehr in Afrika kennengelernt hat. „Liebe im Regenwald? Woran erkannte man sie? Gab es sie überhaupt? Keiner hier schien der Schwärmerei für die „Herrin seines Herzens“ verfallen zu sein. Faire l’amour? War das überhaupt möglich?“ (84) Conrad lernt hier Sexualität ohne Besitzanspruch und ohne Romantik kennen. Sexualität ist (Punkt). Diesem Gedanken kommen Conrad und Elsa sehr nahe als sie Luc und Jeanne kennenlernen. Doch während Conrad und Elsa die sexuelle Beziehung Elsas mit Luc nur als Ausleben ihres Begehrens verstehen, verstrickt Luc sich in romantische Verklärung, die seine Ehe mit Jeanne in Gefahr bringt. Als Conrad wenig später Afrika verlässt, um sich in der Heimat einer notwendigen Operation zu unterziehen, versagt Luc in den Augen beider Frauen. Luc ist kein Erfolgsmensch wie Conrad, er verkörpert einen Träumer, der beruflich versagt. Conrad wird mit Sehnsucht erwartet, doch dieser vertreibt sich die Wartezeit auf die Operation mit Anna, seiner früheren Geliebten… „Conrad hielt sich für unverwundbar. Vielleicht war er es auch, solange er daran glaubte. Vielleicht fühlte er weniger, als er den Anschein gab. Bisweilen dachte sich Anna seinen Körper weniger als Schutz um eine Seele, als durch und durch Fleisch.“ (271)

Am Schluss bleibt alles offen, die Straße der Zukunft ist bis auf 80 km unfertig geblieben. Peter Steiners Ansinnen, der europäischen Leserschaft etwas vom afrikanischen Lebensgefühl zu vermitteln, ist nur zum Teil geglückt. Wohl beeindruckt er mit Bildern einer magischen Natur, die machtvolle Anziehungskraft ausübt – deren Bewohner sind jedoch nicht mehr als Statisten in einem neu-kolonialistischen Drama. Bis auf die Ausnahme von Geneviève, die Conrad kurzzeitig „verhext“, spielen die AfrikanerInnen selbst keine große Rolle. Die neugierige Distanz, mit der zu Beginn vielversprechend das Fest im Regenwald erzählt wird, kann im Weiteren nicht überwunden werden. Conrad akzeptiert schnell seine Stellung als Weißer, von dem Distanz zu den Einheimischen erwartet wird. Man bleibt unter sich und insofern handelt es sich nur um eines von vielen weißen Gastspielen, das der schwarze Kontinent schluckt.

Peter Steiner Azimut
Roman.
Salzburg Wien: Otto Müller, 2009.
315 S.; geb.
ISBN 978-3-7013-1161-3.

Rezension vom 27.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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