Zwar sind die Bradnsee-Gedichte H. C. Artmanns noch um einiges älter und die Chansons von Mani Matter ein paar Jahre früher entstanden, aber längst haben sich auch die vor rund 25 Jahren zum ersten Mal erschienenen Korrnrliadr als eine langlebige literarische Besonderheit erwiesen. In einer um eine Interlinearversion sowie eine vom Autor selbst besprochene Audio-CD ergänzten Zusammenstellung sind sie nun in einer dritten Auflage im Wiener/Bozner Folio Verlag neu erschienen.
Worin die Besonderheit, vielleicht sogar die Einzigartigkeit der Korrnrliadr liegt, wird bereits beim Lesen des Vorworts zur Entstehungsgeschichte klar. Die Korrnrliadr sind eine sprachliche und erzählerische Rekonstruktion. Sie erzählen in Gedicht- oder Liedform vom Leben der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestehenden Tiroler Minderheit der zwischen Oberitalien, dem Engadin, Süd-, Nord-, Osttirol und Kärnten umherziehenden und danach von den Straßen verschwundenen und nur mehr in Erinnerungen, Namen oder Sprachbildern erhalten gebliebenen „Karrner“ (Karrenzieher). So gesehen reichen die Korrnrliadr wesentlich weiter zurück als sie ihrem Entstehungsdatum nach anzusiedeln sind.
Diese Ausgangssituation einer nachgereichten Volkskultur ermöglicht die besondere Raffinesse der Korrnrliadr, die sich gleichermaßen auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart beziehen, und die ebenso erzählen wie sie sich auch an jede Leserin und jeden Leser direkt richten. Es ist das Verdienst des Folio Verlags, sie nunmehr für einen Leserkreis zugänglich zu machen, der sonst vor lauter Entzifferungsschwierigkeiten nicht zum Lesen gekommen wäre. Für Nichtkundige des „Vintschgerischen“, und dabei wird es sich wohl um die Mehrzahl der deutschsprachigen Leserinnen und Leser handeln, bietet sich zuerst das durchgehende Lesen der hochsprachlichen Interlinearversionen der Gedichte am Ende jeder Seite an, als nächstes ein Hördurchgang und schließlich und endlich das Lesen der Originale, die sich nach dieser kurzen Einführung in das als Gastsprache für die nicht mehr vorhandene Sprache der Karrner gewählte „Vintschgerische“ erstaunlich leicht und vielfältig „übersetzen“ lassen.
Die Interlinearversionen bieten direkte Nachschlagehilfen dazu, sind aber alles andere als wörtliche Übersetzungen oder Nachdichtungen, sondern stellen eine eigene reizvolle Mischung aus gebundener, rhythmisierter Sprache und aus eigenen kleinen, sich manchmal in einem nächsten Gedicht fortsetzenden „Geschichten“ dar, zugleich fungieren sie als eigenständige literarische Einführungen in die Gedichte. Vom Leben der Karrner erfährt man fast nebenbei. Daß sie sich – bis auf den Karrnerkönig, der deshalb der Karrnerkönig ist, weil er zum Ziehen Pferde hat – selbst vor ihre Karren spannen, läßt sich mehr zwischen den Zeilen als in den Gedichten selbst lesen und bildet genauso nur den Hintergrund des in den Liedern „Erzählten“ wie Landschafts- oder Ortsnamen, weil die zentralen Fragen der Karrner in ihrem Umgang mit der Welt und im Umgang der Welt mit ihnen bestehen.
Sie sind in der Welt genausowenig vorgesehen wie im Himmel, sie kennen den Unterschied zwischen Sein und Haben nur zu gut und genausogut kennen sie den Unterschied zwischen dem Festgefahrensein und ihrem „Fahren“. Und genau deshalb darf ihnen in keiner Situation ihr Sinn für das Lebensnotwendige fehlen:
„Auf so einer Reise ist der Karrner eben / auch einmal in den Himmel gekommen, / hat gefragt, ob nichts zu reparieren sei / und ob sie Pfannenreiber bräuchten, / er habe Durst wie ein Kamel / und zeigt auf seine trockene Seele. // Da nimmt der Engel eine Weihwasserkanne / und haut sie dem Karrner über den Kopf. / Eine Himmelfahrt ist kein Handel, / nur daß Sie wissen, wo Sie sind …“ Aber das wissen die Karrner ohnehin, und wesentlich besser als alle anderen.