Vielleicht wollten auch Sie sich immer schon in ein Taxi setzen und sagen: „Folgen Sie dem roten Ferrari da vorne!“ Im ersten Satz des Buches von Clemens J. Setz kommt es noch besser. Natalie Reinegger, die 21-jährige Hauptperson, steigt ins Taxi und sagt: „Folgen Sie diesem Heißluftballon!“
Ob das schon jener „Verschrobenheitsfaktor“ ist, den das Buchmessen-Quartett für Clemens J. Setz geltend gemacht hat? Die Stunde zwischen Frau und Gitarre jedenfalls ist ein außergewöhnliches Buch und Clemens J. Setz ein sehr außergewöhnlicher Autor. Darüber, worin das Andere dieses Autors und seines Buches besteht, will ich etwas sagen.
Ich beginne mit ein bisschen Marktforschung, also simpel. Kunden, die Die Stunde zwischen Frau und Gitarre gekauft haben, haben auch gekauft: Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969, 3,2 von möglichen 5 Sternchen; Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, 3,9 von 5 Sternchen; Jonathan Franzen: Unschuld, 4,2 von 5 Sternchen. Daran sieht man gleich einmal, in welcher Liga der Autor spielt.
Auf weiteren Plätzen folgen weitere Bücher von Setz. Der Roman Indigo, der Gedichtband Die Vogelstraußtrompete; ein Band mit Erzählungen mit dem schönen langen Titel Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes sowie ein Band mit Nacherzählungen eigener früher Geschichten namens Glücklich wie Blei im Getreide. Auch der frühe Setz, der später einmal der „Vor-Suhrkamp-Setz“ heißen wird, findet laut Angaben bei Amazon Abnehmer unter jenen Kunden, die Die Stunde zwischen Frau und Gitarre gekauft haben.
Aufgrund seiner beiden ersten Bücher, Söhne und Planeten und Die Frequenzen, beide im St. Pöltener Residenz-Verlag, wurde der 1982 geborene Grazer Autor zunächst als literarischer Experte für die heiklen Verhältnisse zwischen den Generationen gehandelt. Väter und Söhne schienen bei ihm reziprok aufeinander bezogen und die starren Formen der Genealogie von einer oft recht überraschenden Beweglichkeit durchkreuzt. In einer Erzählung mit dem Titel Das Herzstück der Sammlung umgeht Setz die direkte Konfrontation mit den Altvorderen noch einmal anders und dabei gleichermaßen sanft, nämlich indem er nicht etwa die porträtiert, an denen er als Autor vorbei will, sondern sich gleich selbst als gealterten und kraftlos gewordenen Autor setzt. Eine junge Frau besucht das Archiv eines Schriftstellers, das vor dem Verkauf steht. Da hinten, so erklärt ihr der Kustos, könne sie das Spätwerk des Dichters sehen. Die berühmten Bücher aus seiner „Nach-Meer-Periode“, den „Warteschlangen“-Zyklus sowie „Enkel und Asteroiden“, also „den ganzen späten Setz“.
Nicht allein die Bücher des gealterten Autors jedoch werden in den Archivmaterialien zu Fleisch. Auch der Autor selbst ist im Raum anwesend, wenn auch nur noch auf einer Schwundstufe seiner eigenen Lebendigkeit. In einem der hintersten Zimmer hockt Setz als Greis in einem großen gelben Gitterbett, umgeben von zahlreichen, meist beschädigten Regenschirmen und einem Zimmerbrunnen, der einen Strandabschnitt mit winzigen Umkleidekabinen und einem klitzekleinen Sonnenuntergang nachstellt.
„Herr Setz“, ruft der Kustos in den Raum, „ich schalte das Meer aus, bevor ich gehe“. „Nein“, sagt die junge Frau und bleibt für eine Nacht, begleitet vom zustimmenden Grunzen des Alten. Ein lang hingezogenes „Maah“.
Ob es im künftigen Archiv von Clemens J. Setz so aussehen wird, wie in dieser Erzählung beschrieben, ist zweifelhaft, denn das Ansammeln von papierenem Material, als das wir uns das schriftstellerische Tun vielleicht eher einer fixen Idee folgend vorstellen als von realen medialen Entwicklungen veranlasst, gehört bei diesem Autor nicht unbedingt zum Kern der literarischen Arbeitsweise. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre hat Setz auf dem iPad geschrieben. Das Netz also und die Cloud und eine Vorstellung vom literarischen Text, die diesen als eine fließende und bewegliche Erscheinung begreift, die man rein theoretisch in jedes beliebige Speichermedium stecken und auf jedem Display lesen kann, definieren hier den Rahmen der literarischen Produktion.
Eine solche Art zu schreiben hinterlässt keine materiellen Spuren und manifestiert sich, wenn überhaupt, nur noch in einem digitalen Archiv. Eine Fixierung des Geschriebenen auf einem festen Trägerstoff wie Papier hätte jemand, der wirklich nur noch auf dem iPad schreibt, nicht nötig. Die Aura des originalen Schöpfungsaktes, der Zauber von handschriftlich verfassten literarischen Notizen, die Wirrnis vielkorrigierter Zwischenstufen und der Glanz fein säuberlich gefertigter Endfassungen sind verflogen. Bei Clemens J. Setz geht die Entzauberung des Dichtungsmaterials, das der Auseinandersetzung mit Literatur spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen so wirkungsvollen Imaginationsraum gegeben hat, gar noch weiter, denn das Buch selbst erscheint hier als Gedrucktes oft nur noch wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Dazu passt, dass Setz das gedruckte Buch auch praktisch nicht mehr braucht. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre wurde auf dem iPad geschrieben, und bei Lesungen präsentiert der Autor den Text oft direkt von diesem Device.
Anzunehmen wäre, dass die Literatur von Clemens J. Setz, die aus den imaginären Räumen des Netzes und der Neuen Medien kommt, umso leichter in den imaginären Raum des Netzes zurückdiffundieren würde. Dort, wo diese kleine Laudatio ihren Ausgang nahm, nämlich bei Amazon, zeigt sich, dass dieser Raum nicht nur ein Raum neuer sozialer Begegnungsformen, sondern vor allem auch ein hochtechnisierter Marketing- und Verkaufsraum ist. Das Buch Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, von dem ich Ihnen zu sagen versprochen habe, warum es außergewöhnlich ist, bringt es auf Amazon im Augenblick auf sechs Kundenrezensionen, erreicht in dieser eher kleinen Gruppe aber einen schlicht nordkoreanisch zu nennenden Zustimmungsgrad: 5.0 von exakt 5 möglichen Sternen.
Auch die professionelle Literaturkritik, die mit Userbewertungen ansonsten nicht allzu stark korreliert, reagierte auf das Buch fast durchwegs euphorisch. Von einem „genialen Roman, der das Zeug zum Kultbuch“ hat, war in einer Besprechung die Rede. In einer anderen wurde die Lektüre der mehr als 1000 Seiten zwar per se als eine Zumutung beschrieben, aber dann doch zugestanden, dass das Buch den Leser und die Leserin in einen wahren Lektüretaumel treibe, gleichsam bis hinein in die letzten „Geisteswindungen“ der Hauptfigur. Dort böten sich Einblicke in „Wunderkammern und Schreckenskabinette“, wie man sie bislang noch nicht gesehen hat.
Dass das Buch den Deutschen Buchpreis nicht bekommen hat, erklärte man sich im Allgemeinen eher mit der Zusammensetzung der Jury als mit dem Buch selbst. Vom „wahnsinnigsten“, „provokativsten“, „intelligentesten“, „sprachmächtigsten“ und „verstörendsten“ Roman des Jahres“ sprach – und zwar in einer einzigen Rezension – Richard Kämmerlings und hat es sich mit einer solchen Anhäufung von Superlativen fraglos verdient, stellvertretend für viele andere auch namentlich genannt zu werden. Die Frankfurter Neue Presse schrieb: „Setz‘ Buch ist das Meisterwerk des Jahrzehnts, ein Wunder.“ Und The Gap sah – etwas wackelig auf Peter Handke bezogen, der als Referenzfigur für dieses Buch nun wirklich nicht taugt – Setz ein Jahr lang in der „Junggenie-Bucht“. Sehr nachvollziehbar fasste Martin Ebel die Erfahrungen zusammen, die man bei der Lektüre macht: „Verwirrt taucht man aus diesem Roman wieder auf, betrachtet die gewohnte, banale, fast vergessene Umgebung, denkt sich – ›was war das denn?‹ und möchte am liebsten noch mal von vorne anfangen.“
Unter Adressen wie dem Hashtag #1000SeitenSetz formierten sich auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken teilweise schon Wochen vor Erscheinen des Buches Lesegruppen. Der Verkehr auf diesen Flächen und die Intensität der Diskussion ist bis heute eher mau. Guido Graf richtete im Netz eine Seite ein, auf der unter dem passenden Titel „Betreutes Lesen“ eine andere Form der kollektiven Lektüre erprobt wird. In Zusammenarbeit mit dem ebook-Anbieter Sobooks können die User eigene Kommentare, Anmerkungen und Fragen direkt in den elektronischen Text des Buches setzen und auf Einwände, Antworten und Korrespondenzen anderer hoffen.
Clemens J. Setz ist in den neuen sozialen Medien selbst sehr aktiv und beteiligt sich punktuell auch an solchen Unternehmungen. Das verleiht dem Ganzen Kredit und freut den Verlag, der seit einiger Zeit ein eigenes Blog betreibt und sich so den neuen digitalen Herausforderungen, die die Branche bedrängen, noch besser gewachsen sieht. Mit Sicherheit erfreut ein digital native wie Clemens J. Setz aber auch die Anbieter der neuen elektronischen Lesefeatures. Die kontemplativen und individuellen Momente der Lektüre indes sind davon noch lange nicht suspendiert.
Ganz im Gegenteil setzt Die Stunde zwischen Frau und Gitarre das einsame, stille und konzentrierte Lesen wieder neu ins Recht. Clemens J. Setz weiß das auch und sagt es. Dieses Buch ist eines der einfachsten Bücher, die er bisher geschrieben hat. Selten zuvor und zumindest nicht in seinen Romanen war der erzählerische Raum so genau abgesteckt und die Handlung nach außen hin so definiert und geschlossen wie hier. Die klassischen Identitäten des Erzählens kehren in der Stunde zwischen Frau und Gitarre wieder – Raum, Zeit und Handlung sind in diesem Buch wie Aristoteles zugeschrieben: eins.
Ort der Handlung ist die steirische Landeshauptstadt Graz, die zweitgrößte Stadt Österreichs mit knapp über 280.000 Einwohnern. „Eine dumme mittelgroße Zwischendingstadt“, sagt Natalie Reinegger. Ob die junge Frau weiß, wovon sie spricht? Viel mehr als Graz kennt sie nicht. Ähnlich wie Kant aus Königsberg kommt auch Clemens J. Setz selbst nicht aus Graz weg. Allerdings versteht er es meisterhaft, die, die ihn dort besuchen, in seine Welt einzubauen. Den Literaturkritiker der Zeit etwa packte er auf sein Tandem und gab ihm damit en passant eine Lektürestrategie. Warum er denn, so fragte Ijoma Mangold den Autor während der Fahrt, überhaupt ein Tandem hat? Seine Freundin, so Setz, sei halbblind und das Tandem für sie beide das ideale Fortbewegungsmittel. Zusehends blind gemacht fühlte sich Mangold auch beim Lesen des Buches. Sprach‘s und nahm‘s als eine Qualität des Textes und hat damit vollkommen recht, denn wie in einem Thriller in Zeitlupe ziehen in der Stunde zwischen Frau und Gitarre die Nebelschwaden auf.
Die psychische Struktur des Textes ist die Paranoia und oft nistet sich diese in dem Buch gerade dort am nachhaltigsten ein, wo uns der Autor von nichts anderem erzählt als vom Alltag seiner Figuren. Das gesamte Konstrukt ist paranoid, denn jeder vermag hier von jedem verfolgt zu werden. Rein äußerlich geht das so: Natalie Reinegger nimmt einen Job als Pflegerin in einer Einrichtung für „Betreutes Wohnen“ an. Früher hätte man dazu „Irrenhaus“ gesagt und einer wäre mit Sicherheit übers Kuckucksnest geflogen. Als „Klienten“, wie dies freakig Gestrige heute heißt, bekommt die junge Frau einen gewissen Alexander Dorm zuwiesen. Dieser Mann ist ein ausgesprochener Frauenhasser (daher erklärt sich zumindest zum Teil auch der Titel des Buches) und hat mit ausgefeilten Psychotechniken und unendlicher Energie die Ehe eines von ihm angebeteten und gestalkten Mannes zerstört.
Christoph Hollberg, das Objekt von Dorms Begierde, besucht den an den Rollstuhl gefesselten Mann regelmäßig im Heim und quält ihn dabei auf alle erdenklichen Arten. In das komplexe innere Verhältnis der beiden Männer dringt Natalie immer weiter ein, ohne dass sie daran etwas zu enträtseln vermöchte. Detektive und Aufklärer, und das betrifft auch alle Exegeten, die sich über diesen Text mit klassischen Mitteln der Interpretation hermachen, haben in diesem Buch wenig Chancen. Natalie wird Teil des paranoiden Systems. „Männer“, so sagt sie an einer Stelle, erschienen ihr „wie traurige Geheimagenten, deren Auftraggeberland nicht mehr existiert.“ Das Problem sei nur, dass die Männer weitermachten, als ob sie davon gar nichts wüssten.
Ein Gleichgewicht des Schreckens herrscht in der Stunde zwischen Frau und Gitarre zwischen Männern und Frauen. Auch der Erzähler des Buches, der so unzweifelhaft ein Mann ist, fügt sich in diesen Zusammenhang. An Natalie hat er eine wahre Närrin gefressen. Über hunderte Seiten hinweg verfolgt er all ihre Bewegungen, ihr ganzen Handeln und Tun. James Joyce war an Leopold Bloom nicht näher dran, als es Clemens J. Setz an Natalie Reinegger ist. Anders als hundert Jahre zuvor in Dublin ist es in der Gegenwart von Graz allerdings kein innerer Redefluss mehr, dem zu folgen wir aufgefordert sind. Alles, was Natalie in sich hat, ist bei ihr von vorneherein nach außen gestülpt. Wenn sie als Streunerin durch die Nacht zieht und in Unterführungen fremden Männern gratis Oralsex gibt, zeichnet sie die Geräusche heimlich auf. Zu Hause bastelt sie daraus Klangcollagen, die für sie das eigentliche Erlebnis sind.
Alle Wirklichkeit ist medial vermittelt. Das ist der bestimmende Leitsatz, dem sich Clemens J. Setz verschrieben hat. Für sich allein genommen wäre das nur thesenhaft. In der Figur von Natalie aber wird es plausibel und plastisch. Natalie Reinegger ist sprachlich-kommunikative Oberfläche, psychologische Erklärungsmuster haben in ihrer hoch gegenwärtigen Welt aus Neuen Medien und alten menschlichen Herkünften ausgedient.
Clemens J. Setz zieht das Programm bis zum Schluss durch. Auch am Ende des Buches findet weder richtige Aufklärung noch ein Kampf zwischen den Protagonisten statt, obwohl einiges einen finalen Showdown erwarten lässt. Dieses Implodieren bzw. fast absichtslose Vergessen der erzählerisch aufgebauten Spannungen verbindet das Schreiben von Setz mit demjenigen von Kafka. Giorgio Agamben, der italienische Philosoph des Ausnahmezustands, hat darauf hingewiesen, dass gerade das die eminente Aktualität Kafkas ausmacht: Nicht um den Kampf zwischen den Figuren und die Definitionsmacht über die Welt geht es, sondern um die Vermeidung des Kampfes im konkreten Gebrauch, den die Figuren Kafkas von der Welt machen.
Natalie Reinegger ist eine kafkaeske und dabei vollauf gegenwärtige Heldin. Schauen Sie sich, wenn Sie dieses Buch lesen, die Art und Weise an, wie diese Frau aus Graz, die überall auf der Welt zuhause sein könnte, wo ein iPhone funktioniert, von der Welt Gebrauch macht:
Imaginäre Haustiere sitzen ihr auf den Schultern, nicht allein deshalb, weil sich dieser Vorstellung folgend ihre Rückenschmerzen bessern. Zu Cum-Cookies verwachsen sich ihre sexuelle Vorstellungen und Phantasien. Mit Chem-Trails aus Xanor, Lexotanil und Sirdalud steuert sie ihre Wahrnehmung und im Trinkwasser vermutet sie Mind-Control-Substanzen. Der Zustand, in dem sie sich im Allgemeinen befindet, wird als „aurig“ beschrieben, hochsensibel und nervlich aufgekratzt. Mit selbstgemachten Geräuschcollagen treibt sie sich Ohrwürmer aus. Seltsame Spiele wie die „Anbetung“ eines Fremden oder „Paare teilen“ vollführt sie im öffentlichen Raum. Einzelne Wörter stellt sie sich synästhetisch als Räume mit möglichen Bewegungsrichtungen und Farben vor. Über das Netz und eine spezielle Form des sinnentleerten Sprechens, der sogenannten Nonseq-Kommunikation regelt sie soziale Kontakte. Großartig in einem ganz altmodischen Sinn sind jene Passagen, in denen Setz Natalies Beziehung zu ihrer Mutter beschreibt. Glanzvoll so manch ein Einblick, den uns der Autor, dieser ungeheure Meister-Stalker des Buches, in die Träume seiner Hauptfigur gibt. Auch diese sind, anders als Sigmund Freud es sich gedacht hat, nicht aus alten antiken Tragödien, sondern aus Neuen Medien gemacht.
Kein anderer Autor und keine andere Autorin hat die Physiologie dieser Medien bislang auch nur annähernd zu einer ähnlich überzeugenden literarischen Form gebracht wie Clemens J. Setz.