Clemens J. Setz heißt der Icherzähler in Setz‘ Roman, der nach dem Lehramtsstudium ein Berufspraktikum als Mathematiklehrer in Helianau beginnt, einem Internat für solche Kinder. Dort ist er – der leicht verstörte, hochempfindliche Kauz, als den Setz sein Alter Ego ironisch zeichnet – deutlich Fehl am Platz. Zudem alarmieren ihn rätselhafte Vorgänge, sogenannte „Relokationen“: Kinder verschwinden aus dem Internat, und niemand rückt raus mit der Sprache wohin und wozu.
Nach dem Abbruch des Praktikums forscht der Icherzähler nach; der Gutteil des Buches besteht nun aus dem von ihm gesammelten Material, Gesprächsnotizen, Ausschnitten aus Fachliteratur etc. Für den Leser bleibt das Konvolut rätselhaft, manchmal bis zur Schmerzgrenze (umso lohnender ist eine zweite Lektüre): Niemand scheint gewillt, Antworten zu geben; zudem ist der Autor als Spurenleger hochbegabt, der Icherzähler als Detektiv hingegen völlig ungeeignet. Manchen Hinweisen widmet er sich schon aus Angst vor dem nicht, was da zu sehen sein könnte; seine Handschrift wird, wie er selbst feststellen muss, zunehmend unleserlicher.
In einer dezent als nahe Zukunft gekennzeichneten Zeit (an jeder Ecke blinzeln dem Leser „iBalls“ beinahe vertraut entgegen) tritt der zweite Protagonist des Romans auf, Robert Tätzel: ein ehemaliger Schüler des Internats, der als „ausgebrannter Fall“ sein Indigo-Syndrom abgelegt hat und weder mit der Resozialisierung noch mit der Schutzlosigkeit, die aus dem Wegfall seiner „Zone“ resultiert, richtig fertig wird. Um sich abzureagieren, hält er sich beispielsweise an das Denken „radioaktiver Wörter“ („Dreckfotze, Judensau, entartet, Nigger“) oder traumatisiert die Nachbarin; scheinbar das völlige Gegenteil des Icherzählers, den schon das Foto eines traurigen Hündchens nachhaltig verstört (und dessen älteres Ich womöglich einem Tierquäler die Haut abgezogen hat).
Allerdings züchtet Setz nicht nur den Verdacht, der eine könnte bloß die Erfindung des anderen sein („Such dir einen aus und stell dir vor, wie er sich später verhalten wird.“); auch sind sich die beiden Antagonisten ähnlicher, als man anfangs meint; beiden gemein ist beispielsweise der bei Setz‘ Figuren nicht seltene Hang zum grotesken Vergleich („Im Grunde sah der Mann im Mond aus wie Angus Young …“ – „Ein Baum wollte immer alles umarmen.“). Das ist jedoch nicht bloß bildwütige Exzentrik, sondern auch plausible Psychologie (in früheren Büchern lag das Gewicht oft deutlich auf ersterem): Der eine vermenschlicht seine Umgebung, um sich zu trösten, der andere, um sich abzureagieren („Scheißbaum.“).
Schon in seinen letzten Büchern – man denke an die Pärchen aus dem Band Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, die sich plötzlich Unsägliches antun – hat sich Setz als ein Virtuose des moralischen Reibungsverlustes erwiesen, so auch hier. Großartig an Setz‘ Roman ist nämlich, wie das Indigo-Syndrom den Leser selbst in eine ausweglose Situation bringt, indem der Weg zur moralischen Grauzone nun nicht etwa über die persönliche Befindlichkeit Einzelner, sondern über den allgemeinen Ausnahmezustand führt: Dabei entsteht das Bild einer Gesellschaft, die sich an unlösbare Schuldverhältnisse gewöhnt hat und uns trotzdem – oder deswegen – sehr bekannt vorkommt. Der Umgang damit, dass gerade die Schwächsten der Gesellschaft zur Bürde werden (ein nicht unvertrautes Thema), ist dabei keineswegs eindeutig human, aber auch nicht eindeutig inhuman. Viel zu klug hat Setz eine Vielzahl von Stimmen in Szene gesetzt: Der Horror liegt hier in der völlig nachvollziehbaren Verschiebung des Alltags (nicht etwa in der krassen Abweichung) und unserer letztlich nüchternen Reaktion: Es gibt vielleicht keine Happy Ends – so lautet ein oft (und nicht gerade von den sympathischen Figuren) geäußerter Ausspruch – aber zumindest Fair Ends sollte man doch erwarten dürfen.
An einer Stelle im Roman ist die Rede vom Phänomen des ‚uncanny valley‘: einem Bereich der Ähnlichkeit, in dem die Nachbildung ihrem Vorbild so nahe kommt (ein computergeneriertes Gesicht einem menschlichen beispielsweise), dass die Unterschiede langsam verschwinden, aber gerade deswegen das Gefühl überhand nimmt, dass da etwas ‚nicht stimmt‘. Indigo ist so ein „haarscharf daneben“ angesiedeltes Simulacrum: Natürlich als kluges und ironisches Maskenspiel des Autors (merke: Niemals einen Autor nach seinem Lieblingsroman fragen!), aber vor allem als Gesellschaftsroman: Wir sehen eine Version unserer selbst, täuschend ähnlich, und es weht uns unheimlich an.