Elfriede Semrau hält sich bei ihren Geschichten an das klassische Muster des Kriminalromans, das seit den Detektivgeschichten von Edgar Allen Poe und Conan Doyle als typisch und praktikabel gilt: Ein Mord, ein enger Kreis an Verdächtigen, falsche Fährten, im Mittelpunkt der Detektiv und sein Helfer, am Schluß die Überführung des Mörders/der Mörderin.
Die Hausherrin Sali Bienenstein hat eine Schar illustrer Mieterinnen und Mieter unter ihrem Dach versammelt, deren aufmerksame Skizzierung bereits auf den ersten Buchseiten keinen Zweifel daran läßt, daß es sich hier um den Kreis der Verdächtigen handelt. Noch ist kein Verbrechen passiert, doch die Ambitionen für ein solches sind vielfältig. Da gibt es ein skurriles altes Mutter-Tochter-Paar, eine allseits gehaßte ehemalige Heimerzieherin, einen pensionierten Sektionschef mit einer privaten Aktensammlung, einen abgetakelten Varietékünstler, ein schwules spanisches Studentenpärchen, einen zölibatären österreichischen Theologiestudenten, eine anscheinend sehr noble Hosteß, die für eine Begleitagentur arbeitet, eine allzu mürrische junge Frau, einen gescheiterten Ex-Fernsehmoderator und schließlich die seriöse Instanz, den geistlichen Rat Bienenstein, einen Onkel der Pensionsbesitzerin, der im Haus ein testamentarisch verbrieftes Wohnrecht hat.
Auch das Personal des „Bienenstockes“ bietet ausreichend Projektionsflächen für Verdächtigungen. Die Köchin Paula Roßkopf, eine „böhmische Fuchtel“ mit Hang zu Schundromanen, dazu Rosa, ihre geistig beschränkte, aber arbeitsame und den männlichen Pensionsgästen sexuell dienstbare Nichte aus Brno, Nepomuk Kaiser, der alkoholvernebelte Hausknecht, und Fatme, eine bosnische Flüchtlingsfrau, die sogar beim Zimmerputzen den unverzichtbaren Tschador trägt – „wohl wissend, daß ihr Gatte, der von ihrer Hände Arbeit lebte und den ganzen Tag in einem Kebablokal mit anderen Arbeitslosen politisierte, sie ohne dieses unkleidsame Kopftuch zwar nicht verstoßen, jedoch garantiert verprügelt hätte“ (S. 12).
Hinter gemütlichem Wiener Lokalkolorit läßt die Autorin grell und punktgenau die schlecht verborgenen Schwächen aufblitzen: Intoleranz und latente Fremdenfeindlichkeit sind im „Bienenstock“ trotz der bunten Gesellschaft allgegenwärtig, beim Tischgespräch schwappen die Emotionen regelrecht über den Tellerrand. Bei allem Engagement gegen Rechtsruck und Engstirnigkeit gelingt es Elfriede Semrau aber nicht nur, bestens zu unterhalten, sie meistert auch die Gratwanderung, ihre einfachen Helden nicht zu denunzieren.
Erwartungsgemäß wird im „Bienenstock“ bald eine Leiche gefunden – Karoline Bruckmöller, die ehemalige Heimerzieherin, liegt vergiftet in ihrem Zimmer. Niemand ist traurig, alle sind verdächtig, und nun beginnt die Arbeit für den bereits wohlbekannten Chefinspektor Alberich Zwerger von der Wiener Mordkommission, der auch schon Elfriede Semraus frühere Kriminalfälle bravourös und eigenwillig gelöst hat. Zur Seite steht ihm sein Kollege Charly (Inspektor Kogler), dessen gezeichnete Polizeiprotokolle aussagekräftiger sind als mancher Text und der für verdeckte Ermittlungen auch seinen Freund Poldi Huber einsetzt. Neu in der Runde ist die junge Inspektorin Angelika Ecker, mit der die beiden älteren Beamten in bestem Einvernehmen arbeiten. Sie schaltet im Bedarfsfall typisch weiblich(?) von polizeilicher Nachforschung auf tröstendes Mitgefühl um, verschafft sich aber auch mit rüden Tönen Respekt: „Schmecks! Und jetzt marsch, oder ich pack‘ Sie mit dem Polizeigriff!“
Der Giftmord via Zuckerstreuer läßt zwischen den Pensionsinsassen ungeahnte Beziehungen zu Tage treten, die Ermittler stoßen auf einen ungeklärten Überfall, auf verschleierte Biografien und jahrelange Erpressungen, schließlich sogar auf zwei weitere, bisher unentdeckte Morde. Bis zuletzt kann sich der Leser ebensowenig wie die Ermittler auf einen Verdächtigen/eine Verdächtige festlegen und aus den Indizien wollen beim besten Willen keine Beweise werden. Zur zentralen und höchst unterhaltsamen Figur entwickelt sich im Lauf der Geschichte Charlys Freund Poldi Huber, der zu Ermittlungszwecken inkognito in der Pension „Bienenstock“ wohnt. Er agiert im besten Sinne kabarettistisch, wenn er in wechselnden Rollen zwischen den Pensionsbewohnern, dem Kommissariat und seiner Frau Grete jongliert und dabei Details zu Tage fördert, die weit über die Aufklärung des „Zuckermordes“ hinausgehen.
Elfriede Semrau steht mit ihren Wiener Krimis in einer Reihe mit österreichischen Krimiautoren wie Martin Amanshauser, Kurt Bracharz, Ostbahn Kurti/Günter Brödl, Wolf Haas, Ernst Hinterberger, Edith Kneifl oder Alfred Komarek, die ihre Geschichten ebenfalls im wohlbekannten heimatlichen Umfeld ansiedeln und regelrecht eine Gattung „Heimatkrimi“ kreiert haben. Vom Vorarlberger Dorf über das Weinviertel bis zum Wiener Gemeindebau reichen die Schauplätze, das Verbrechen spielt sich sozusagen vor der eigenen Haustüre ab, die Identifikation mit Orten und Figuren ist erwünscht und durchaus reizvoll. Reizvoll können die Romane dieses Genres auch für Nichtösterreicher sein – als Studie über und Satire auf eine spezifische Mentalität, als „Ethno-Krimi“, so das neue Schlagwort für Kriminalgeschichten aus allen Himmelsrichtungen, die in Zeiten der Globalisierung zunehmend den Buchmarkt bereichern.
Elfriede Semrau unterstützt jedenfalls ihre dialektunkundigen Leser bei der Erforschung des Wienerischen: Ausdrücke wie „antapperlt“, „Nebochant“, „plaazen“, „Remasuri“ oder „Scheanglerter“ sind in einem Glossar erklärt, das bestimmt auch österreichischen Lesern gute Dienste leistet.