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Wirths Roman

György Sebestyén

// Rezension von Peter Stuiber

György Sebestyén, 1930 in Ungarn geboren und von 1956 an bis zu seinem Tod 1990 in Österreich beheimatet, hat in seinen letzten Lebensjahren an einem Projekt gearbeitet, das ein wahres opus magnum werden sollte. Der Autor hat für Wirths Roman die Form eines Lexikon-Romans gewählt und seine Entscheidung dafür in einem Gespräch erläutert: „Der Roman ist die fiktive Biographie eines Menschen […] Viele Nebenfiguren sind dazu nötig, viele Schicksale; sie sind unerläßlich, denn alle haben sie Auswirkungen auf das Schicksal dieses einen Menschen, es ist ein Geäst von Schicksalen.“ (S. 7)

Anders jedoch als etwa Heimito von Doderer, der in seinen großen Romanen seine eigene Forderung nach totaler „Apperzeption“ umsetzte, indem er vielfältige Handlungsstränge innerhalb einer Erzählung miteinander verknüpfte, wählte Sebestyén einen Weg, der vorrangig die Lebensgeschichte der Hauptfigur Wirth verfolgt. Dem Geäst von Schicksalen, die auf Wirths Leben Einfluss gewinnen, sollte der Leser anhand eines gesonderten lexikonartigen Teils je nach Belieben Stichwort für Stichwort folgen können. Leider konnte der Autor sein Vorhaben nicht mehr zu einem Abschluss bringen, sodass Wirths Roman nur als Fragment vorliegt: Es handelt sich dabei um drei relativ umfangreiche Teile des Romantextes (über die Kindheit und Jugend der Hauptfigur) und um 14 der insgesamt 64 geplanten Stichwörter.

Somit zur Hauptfigur: In einem Lehrerhaus kommt András Wirth 1891 zur Welt. „Soweit wir den Physiologen glauben dürfen, waren seine Augen noch nicht in der Lage, das Aquariumlicht des dämmrigen Raumes wirklich zu sehen; dagegen gelang es ihm ganz ausgezeichnet, sich auszudehnen, mit der gewaltig aufgeblähten Lunge Luft zu schöpfen […] und – ein Triumph der Expansion – sich gleich durch mehrere Öffnungen zu entleeren.“ (S. 17)

Was derart ironisch anhebt, wird sogleich durch die Verknüpfung mit dem Tod am 30. Oktober 1972 ins Dunkle gezogen: Der Sterbende hat das Gefühl, „es hätte sich zwischen den beiden Stunden nichts Wesentliches zugetragen, lediglich einige Bilder“ (S. 17). Es folgen die ersten, recht glücklichen Lebensjahre bis zum Tod des Vaters; danach zieht András mit seiner Mutter aus der ungarischen Provinz nach Wien, wo der stille Schüler schon bald Freundschaft mit einem Buben aus stramm deutschnationalem Haushalt schließt. Die Gegensätze zwischen Wirths Humanismus und dem Nationalismus des Freundes Konrad Burkert schaffen eine Spannung, die so manches gewinnbringende Gespräch zwischen den Pubertierenden ermöglicht. Musikalisch begabt, spielt der eher unentschlossene Wirth nach der Matura mit dem Gedanken, Musiker oder Komponist zu werden; im Privaten schwebt ihm zunächst ein Leben mit Kerstin von Gomperz, Tochter eines in Ungarn ansässigen Eisenbahnkonstrukteurs, vor. Diese versucht, den jungen Mann aus seiner Lethargie und Weltfremdheit zu reißen, ihn ins Leben hineinzustoßen. Der Romantext endet damit, dass Kerstin dem Musiker ins Gewissen redet, doch endlich sein berufliches Schicksal in die Hand zu nehmen. Der Versuch, den Wankelmütigen zu heilen, scheitert. „Er glaubte, die Fremdheit, die ihn von anderen Menschen trennte, nicht nur zu fühlen, sondern auch zu schmecken, und ließ der Wut, die er verheimlicht hatte, freien Lauf. Die rücksichtslosen Bewegungen seines Körpers verwandelten den Zorn in die Bewußtlosigkeit der Lust.“ (S. 189f.)

Hier bricht die Geschichte ab; Entwürfe zum vierten Teil verraten, dass ein Sozialist namens Leo Korn eine wichtige Rolle spielen sollte: eine neuerliche kreative Spannung im Umfeld des humanistisch gesinnten Wirth scheint hier Sebestyén vorgesehen zu haben. Helga Blaschek-Hahn, Herausgeberin und eine profunde Kennerin des Werkes, weist in ihrem Nachwort auf die offensichtlichen autobiografischen Bezüge des Romans hin. In Wirths Humanismus werden Züge des Autors erkennbar, der selbst als Anhänger Imre Nagys die Härte des „realen Sozialismus“ zu spüren bekam und später jedem ideologischen Fanatismus abschwor. Dass der Todestag des Protagonisten auf den Geburtstag Sebestyéns fällt und er jenen Tag im Buch noch dazu mit der Geburt András Wirths verschränkt, bestätigt diese Einschätzung.

Sebestyén versucht in seinem Roman, mit Hilfe von realistischer Beschreibung und psychologischer Analyse einem Lebenslauf in seiner Gesamtheit Gestalt zu verleihen. Die Stichwörter des Lexikonteils – zu Nebenpersonen, philosophischen Ideen etc. – bringen den Leser, sofern er dies wünscht, auf Umwege, die aber allesamt auf Wirths Spuren zurückführen. Mit dem anarchischen Spiel des Lexikon-Romans von Andreas Okopenko, bei dem der Leser den Handlungsverlauf selbst bestimmt, hat dies wenig zu tun. Sebestyén löst die Geschichte nicht auf, sondern versucht, die verstreuten Handlungsfäden zu verbinden. Er folgt so dem Motto des Romans, welches bei Albert Camus‘ Mensch in der Revolte Anleihen nimmt: „Im Jahrhundert, in dem das Fleisch vom Knochen rinnt wie Kerzenwachs und der nackte Docht in der Mitte der schnell und ruhig in die Höhe strebenden Flamme zu Asche verglüht, muß die einsame Seele gegen den Tod rebellieren […] mit dem einzigen Ziel, verschwindendes Leben dingfest zu machen.“ (S. 10)

György Sebestyén Wirths Roman.
Lexikon eines Lebens.
Herausgegeben von Helga Blaschek-Hahn.
Graz, Wien, Köln: Styria, 1999.
279 Seiten, gebunden.
ISBN 3-222-12188-5.

Rezension vom 29.10.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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