Es sind die Narben, die den Autor interessieren. Auch wenn manche sich ihre am liebsten wegwünschten: Narben brechen immer wieder auf, bleiben sichtbar, leben weiter als „ungewollte Bilder“. Der Betrachter in Schuttings Prosaskizzen, Statements und Gedichten ist nicht auf der Suche nach den Narben, sondern diese holen ihn tagtäglich ein, an jeder Straßenecke, im Gasthaus, in den Medien. Die Katastrophen dieses Jahrhunderts als Wunden, die nicht verheilen, und die Bilder, die uns davon überliefert wurden, als sichtbare Narben. Narben des Vietnamkrieges, des Ersten Weltkrieges, der Zerstörung der Natur durch den Tourismus. Sie alle verweisen in diesem Buch stets auf eines: den Holocaust. Selbst unsere heutige Bilderflut von Kriegen, Terror und anderen Gewaltakten können die Momentaufnahmen nationalsozialistischer Rassenvernichtung nicht verdrängen: „Mein Bruder kann nicht schlafen, / er hat keinen Kopf mehr! / sagt ein Siebenjähriger nach dem Massaker / In einem algerischen Spital liegen Krankenbett / neben Krankenbett in drei Krankensälen / lauter Erstochene / […] / Aber würde von dergleichen mehr / das Bild des SS-Mannes ausgelöscht / der, ritterlich zu ihm gebückt / einem kleinen Mädchen / die hohen Stufen hinanhilft / zu dem Tor, durch welches es treten wird / mit anderen in den Tod Getriebenen?“ („Unstatthaft“, S. 34).
Bilder drängen sich auf, lösen Assoziationen aus. Die volle Gondel einer Seilbahn in Badgastein erinnert an jene Viehwaggons, mit denen Juden und andere „Minderwertige“ in den Tod transportiert wurden. Konträr dazu die Metapher vom vollen Boot, in dem angeblich keiner mehr Platz finden könne: Was damals für die Schweiz als Entschuldigung restriktiver Flüchtlingsaufnahme recht war, erschien dem Klubobmann einer österreichischen Regierungspartei als Grund für eine harte Ausländerpolitik gerade billig. Weitere Momentaufnahmen des Todes: die Wirtin, welche mit dem Insektenvertilgungsmittel Vandal die Gaststube „reinigt“, wie um zu beweisen, dass man so einen kleinen Gasangriff mit ein bißchen gutem Willen doch wohl überleben könne; die ukrainischen KZ-Häftlinge von Mauthausen, „die in einer Winternacht nackt antreten mußten und dann so lange mit Wasser angeschüttet wurden, bis sie, zu Eis geworden, umgefallen sind“ (S. 35); das Bild des Yuppie-Landeshauptmannes, der die Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches „ordentlich“ findet.
Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust hinterlässt ebenfalls Spuren in Schuttings Buch, sei es das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka oder die Todesfuge Paul Celans. Letztere ins Gedächtnis gerufen durch den Bruchteil eines Satzes, gesprochen von einer Emigrantin zu Besuch in Altaussee: „Also ich wird euch sagen: die Luft von Buenos Aires…“ (S. 41): „den Lüften, in denen man laut Paul Celan nicht eng liegt, ist sie entflohen, mit Gottes Hilfe ist ihre Familie, anders als Asche vom Wind, weiß Gott wie weit in alle Welt verstreut worden“ (ebd.). In „Vergebungsfestivitäten. Eine Replik, 1998“, dem letzten Stück aus Jahrhundertnarben, dann Gedanken, ob und wie „darüber“ zu sprechen sei. „Gib die Wahrheit so nackt wieder, wie es sich für diese Wahrheit gehört“ (S. 126), d. h. ohne jede formelhaftes Beiwerk, welches das Geschwätz unserer staatlichen Repräsentanten oftmals so unerträglich macht. Und auf Karl Kraus und Adorno verweisend die Feststellung, dass „einen die Sprache dort zu Recht im Stich läßt, wo ein Kommentar kaum möglich ist“ (S. 127).
Julian Schuttings Buch ist ein Versuch, sprachlich dem beizukommen, was schwerlich kommentiert werden kann. Jahrhundertnarben richtet den Blick auf die Bilder der Katastrophe, denen wir nicht entkommen: Den Leser erwartet eine schmerzhafte Lektüre.