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Mutmaßungen über die Poesie

Raoul Schrott, Hans Magnus Enzensberger

// Rezension von Helmuth Schönauer

„Ein Wort wie Schnaps hat fünf Konsonanten und einen kurzen Vokal, wie soll man das zum Klingen bringen!“ Raoul Schrott spricht gelassen, entkrampft und fröhlich über die Poesie, denn seiner Ansicht nach soll die Poesie im Vortrag unterhaltsam, alltagstauglich und – wie Musik – allgemein zugänglich sein.

Die Idee der beiden Radioredakteure Hubert Winkels und Denis Schenk vom Deutschlandradio ist bestechend: Vor knapp vierzig Jahren hat Hans Magnus Enzensberger mit seinem Kultbuch „Museum der modernen Poesie“ durch Erstübersetzungen aus aller Welt den ganzen deutschsprachigen Kontinent poetisiert, vor knapp vier Jahren hat Raoul Schrott mit seiner „Erfindung der Poesie“ nach Art der Postmoderne abermals einen flächendeckenden poetischen Coup gelandet. Was liegt also näher, als die beiden zu Mutmaßungen über die Poesie vor das Mikrophon zu bitten.

Während Enzensberger und Schrott in souveränger Manier mit einem dreidimensionalen Freiticket durch die Poesie surfen, werfen die beiden Radioredakteure immer wieder ängstlich Fragen ein. Einmal, um das Gespräch zu strukturieren und irdisch zu halten, zum zweiten, um die Reputation verklemmter Philologen, Keilschriften sammelnder Grabforscher und papyruskundiger Phonetiker ein wenig vor dem Ansturm der Freidenker zu retten.

Denn Enzensberger und Schrott stimmen darin überein, daß vieles von dem, was die Altphilologen und Ethno-Poetologen landläufig dozieren, mit Poesie nichts zu tun hat. Spannende Lesungen unterstützen die Gesprächstheorien, wobei die Vortragsweise so eindringlich schlicht ist, daß sie als beinahe einzig authentische Form empfunden wird. So zitiert Hans Magnus Enzensberger unter anderem Texte von Catull, Guihelm IX. und Sappho in Übertragungen, Raoul Schrott rekonstruiert Originaltexte von Sappho, Catull und Enheduanna, wobei natürlich das Sumerische in der phonetischen Analyse beinahe schon an Aufzeichnungen aus dem Weltraum erinnert.
Die Texte sind für jene Hörer, die dem Klang der CD nicht ganz trauen wollen, schriftlich fixiert, ein genaues Inhalts- und Track-Verzeichnis ermöglicht das punktgenaue Auffinden jeder gewünschten Zeile.

Auf das Gespräch, das bestens strukturiert ist und so nebenher die Weltgeschichte der Poesie vermittelt, folgt noch ein kühner Essay von Raoul Schrott: „Wie ein Pferd zu einem Kamel wird“. Darin wird der Frage nachgegangen, warum sich der Text beim Übersetzen völlig verändern kann, obwohl sich alle Beteiligten redlich Mühe geben, sauber zu arbeiten. Vielleicht ist gerade der saubere Hang der Wissenschaft der Tod eines jeden Gedichtes, resümiert Schrott und führt jede Menge Beispiele an. Unter anderem das kantige Wort Schnaps, das dann doch noch zum Klingen gebracht werden kann.

Buch und CD sind eine lustvolle Auseinandersetzung mit der Welt der Poesie und der Weltpoesie. Nur wer von Geburt an unter einem Humorfehler leidet, kann gegen dieses poetische Unterfangen etwas einzuwenden haben.

Raoul Schrott, Hans Magnus Enzensberger Mutmaßungen über die Poesie
Hg.: Denis Scheck, Hubert Winkels
Lesungen und ein Gespräch.
Berlin: Eichborn, 1999.
56 S.; 2 CDs.
ISBN 3-8218-5109-0.

Rezension vom 10.08.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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