#Prosa

Die Wüste Lop Nor

Raoul Schrott

// Rezension von Helmuth Schönauer

Im August 2000 blickte anläßlich seines siebzigsten Geburtstages der Verleger Klaus Wagenbach in einem Interview kurz auf sein Leben zurück und teilte dabei mit großer Leseerfahrung die Literatur in zwei Erzähl-Strömungen ein. In die amerikanisch-realistische, die nach dem Paradesatz „Ich kam in die Küche und sah den Koch beim Geschlechtsverkehr obenauf“ arbeitet und im „Literarischen Quartett“ endet, und in die verschmitzt-unwahrscheinliche Erzählweise, bei der Wünsche so lange erzählt werden, bis sie in Erfüllung gehen und im Wagenbach-Verlag stehen.

Raoul Schrotts Novelle Die Wüste Lop Nor steht zwar im Service des Hanser Verlages und nicht bei Wagenbach, dennoch gehört sie in die Kategorie des verschmitzt-unwahrscheinlichen Erzählens.
„Erzähl mir eine Geschichte, hatte Elif gesagt. Und mach, daß sie wahr wird.“ (S. 73) Diese Bitte der Geliebten nimmt Raoul Louper als Befehl und erfindet ständig Orte und Begegnungen, in denen die Liebe geschieht, die Zeit meßbar wird oder gar die Bilder an die Grenze ihrer Ausdruckskraft gelangen.
Einmal in vollem Liebestaumel erzählt Raoul der Geliebten sämtliche Geschichten in den Bauchnabel, als er dann aber ihre Brüste mit den warmen Bäuchen von Spatzen vergleicht, hat sie genug, denn dieses Bild ist nicht mehr passend. (S. 65) Ein andermal versagt dem Liebhaber die Sprache, und es kommt zu einer morbiden Sprachauflösung à la Lord-Chandos-Brief: „es ist schwer, ein Wort für das zu finden, was Raoul dachte. Und immer zu kurz. Zu fern.“ (S. 68)
Die Novelle handelt davon, wie sich eine gute Geschichte einerseits über sämtliche Kontinente erstrecken muß, wenn sie fest in der Welt verankert sein will, und wie sie zeitlos wird, wenn man ihren Zeitablauf genau genug erzählt. Konkret besteht Raoul Schrotts Novelle aus 101 Kapiteln, die mit römischen Zahlen beschriftet sind. Im Anhang sind auf drei Kontinental-Skizzen die Wüsten Sand Mountain, Sahara und Gobi markiert.

Die Wüste ist auch der „Falke“ der Novelle, denn nirgendwo läßt sich die Zeit so genau festmachen und auflösen wie im Sand. So beginnt der Text auch mit der Beschreibung einer japanischen Sanduhr, die genau einmal im Jahr umgedreht werden muß. Ein faszinierendes Bild der Zeit liefert auch ein einzelner Halm im Sand, dessen Ähre im Verlaufe des Tages zwischen Tau und Staub eine Schleife in das Sandgekörne zeichnet, einer Parkuhr nicht unähnlich.
Immer wieder werden aus heiterem Himmel Orte genannt, die entweder eine gewisse Entfernung zu einer bestimmten Düne haben oder sonst einen wüstenähnlichen Bezug aufweisen.

In diese Geschichten vom Sand sind schließlich Liebesgeschichten zu drei Frauen eingewoben, wobei sich Elif, Francesca und Arlette nahtlos aneinanderfügen wie in den sprichwörtlichen Wahlverwandtschaften. Einmal übernimmt Raoul auch den Part des Cornets Rilke, indem er nach Arlette ruft wie nach einem Pferd.
Immer wieder zitiert Raoul Schrott augenzwinkernd aus dem Zitatenschatz der germanistischen Beziehungskiste, und jedesmal wird das Zitat einer neuen Verwendung zugeführt.

Die Wüste Lop Nor wird mit jedem Kapitel zu einem vollkommenen Ort der Imagination.
Erwähnenswert ist der Flattersatz, der das Erzählen immer wieder bremst und dem Auge lyrische Sehgewohnheiten aufzwingt. Die Wüste Lop Nor läßt sich auch als Gedicht in 101 Sequenzen lesen.

Mit dieser wunderschönen Novelle ist der Kosmos Raoul Schrotts wieder um ein paar Sterne dichter geworden. Wüste, Rand der Erde, Hotels, Küsten, imaginierte Geliebte und geliebte Imaginationen, dazu noch ein Schwall von Ironie und gesunder Zweifel am sogenannten realistischen Erzählen – die Wüste Lop Nor lebt!

Raoul Schrott Die Wüste Lop Nor
Novelle.
München: Hanser, 2000.
123 S.; geb.
ISBN 3-446-19921-7.

Rezension vom 30.08.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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