Die Dichter, die er kommentiert und übersetzt, haben oft die poetischen Errungenschaften früherer Dichter in den Kulturkreis und die Sprache des Späteren eingepaßt und verändert, ohne der Philologie oder den soziokulturellen Umständen der Quellen allzu große Bedeutung beizumessen (z. B. seien die Sizilianische Schule um Giacomo da Lentino und die okzitanischen Trobadors von der spanisch-hebräischen Dichtung des Samuel Ha-Nagid beeinflußt). Dichterische Vereinnahmung will und leistet auch Schrott in dem synoptischen Kraftakt seiner Poesie-Fibel. In eine Sprache, die er für die angemessene unserer Zeit hält, holt er die ersten viertausend Jahre der Dichtung herüber: von ihren Anfängen, die er mit der Hohepriesterin Enheduanna im 24. Jh. v. Chr. festlegt, bis zur walisischen Poesie eines Dafydd ap Gwilym aus dem 14. Jh. n. Chr.
Seine Auswahl und Übersetzung folgen einem – von ihm sich nur spärlich eingestandenen – Realismus, der sich diffus ausdifferenziert: Weil die von ihm gewählten Dichter ein greifbares Unbehagen an ihrer Kultur gehegt hätten, seien ihre Gedichte sehr konkret realistisch und bezögen sich auf konkrete Gegebenheiten, z. B. auf religiöse, soziale, politische oder – wie es in Schrotts Sammlung den „ganzen Kerlen der Poesie“ zusteht – geschlechtliche Gegenstände. Diese sehr konkreten Gegenstände aber seien in den jeweiligen (Original-)Gedichten in Bildern konkret verkörpert, so daß sie den gesamten intellektuellen und emotionellen Komplex in einem Augenblick bündeln. Diese Bilder – noch bevor sie geschrieben wurden, jedoch schon mit dem konkreten Gehalt des Gegenstandes, den sie verkörpern – diese Bilder der Originalgedichte also will Schrott mit den ihm adäquat erscheinenden Mitteln gegenwärtiger deutscher Dichtersprache verkörpern. Dabei scheint er das Funktionale und das Ideale einer universalen Poesie gleichzeitig für seine Übersetzungen zu beanspruchen: sie sollen deutlich machen, was das Gedicht für die Zeit seiner Entstehung bedeutete, vielleicht bewirkte, und was es der Poesie an sich hinzugefügt hat.
Auf diesem Parcours zwischen Funktionalem und Idealem schlittert Schrott in ein Dilemma: Übersetzt er vordringlich die Gegenstände (z. B. Homosexualität; oder: die Rolle der „Popularität“ des Dichters), so nivelliert er den Unterschied, der diese Gegenstände im sozio-kulturellen Kontext ihrer Zeit (etwa im Rom Catulls und heute) voneinander trennt. Dies ist die Crux, an der auch andere gegenwärtige Adaptionen des Mythos zu tragen haben.
Auf lexikalischer Ebene – für die erwähnten Beispiele – bedeutet dies: Schrott übersetzt Catulls „pedicare“ und „irrumare“ (Gedicht Nr. 16) mit „besorgen von vorne und von hinten“, „pathicus“ und „cinaedus“ mit „schwanzlutscher“ und „arschficker“, ungeachtet der Bedeutung und der funktionalen Rolle, die diese Wörter und das durch sie Bezeichnete im gesellschaftlichen und literarischen System der jeweiligen Zeit haben.
Ebenso vordringlich gegenständlich verfährt er mit dem „Spatz“ eines Mädchens in dem Catull-Gedicht Nr. 2. Obwohl es zumindest philologischer Common sense ist, daß Catull, wo er am einfachsten wirkt, durch Anspielungspoesie am kompliziertesten ist, setzt Schrott diesen Spatz triumphierend mit Catulls Schwanz gleich.
Übersetzt Schrott aber „in poetischen Konjekturen, die die Bilder und den Tonfall nachzuzeichnen versuchen“, so hält er zumeist ein heutiges Modell, eine heutige literarische Konvention des Idealen der Dichtung an die Vorlage. Das kann begeistern (begeistert auch sehr oft, wie in Dafydd ap Gwilyms „Satire auf Rhys Meigen“, die fast das ganze bayrische Schimpfwörterbuch aufbraucht), das kann angezweifelt werden (wie der Sappho nachgedichtete, an Bachmann erinnernde Vers „aus der schale der nacht rinnt die zeit“).
So gelungen Schrotts Tour de force durch die ersten viertausend Jahre der Poesie eine weiterreichende Lektüre anregt, so wenig ist es geraten, die aus seinen Kommentaren ragenden Fäden kritisch zu ziehen. Denn da kommt einem gelegentlich das Gerümpel der Ungenauigkeit, schlicht der Falschheit entgegen.