#Roman
#Debüt

Finis Terrae

Raoul Schrott

// Rezension von Karin Fleischanderl

Ein Nachlaß.

Einen Vorgeschmack auf den Roman Finis Terrae gab Raoul Schrott bereits in der Novelle „Ludwig Höhnel Totenheft“, die er 1994 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vorstellte und wofür er den Preis des Landes Kärnten erhielt.

Im Vorwort, das bereits integraler Bestandteil des Romans ist, gibt sich der Autor als Herausgeber eines Nachlasses aus und schildert ausführlich die näheren Umstände, wie die Papiere in seine Hände gelangt sind.
Schrott errichtet ein Labyrinth aus Realität und Fiktion. Er spielt mit dem Leser, verwirrt ihn, überläßt es ihm, die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren aufzudecken.

Der Roman umspannt in vier Heften den fiktiven Nachlaß des österreichischen Archäologen Ludwig Höhnel, dem Enkel des österreichisch-ungarischen Seeoffiziers und Forschungsreisenden Ludwig Ritter von Höhnel (geb. 1857). Bei Ausgrabungen am Rudolfsee in Kenia, dessen Entdeckung seinem Großvater zugeschrieben wird, findet Höhnel das verschollene Logbuch des griechischen Seefahrers und Astronomen Pytheas von Massalia aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Pytheas erforschte den Nordrand Europas und erreichte als erster Grieche das sagenhafte Thule.
Dieses Logbuch des Pytheas bildet das erste „carnet“ des Romans. Während Höhnel das Logbuch übersetzt, reist er dessen Stationen von Portugal über Spanien, Frankreich und England nach und berichtet davon in Notizen und Briefen an seinen Kollegen Ghjuvan Schiaparelli. Ergänzt werden diese von tagebuchartigen Aufzeichnungen über seine Kindheit in Deutsch-Südwestafrika.
Der Briefwechsel dürfte gleichzeitig mit der Übersetzung des Pytheas-Fragments entstanden sein und bildet Heft zwei von Finis Terrae.

Das dritte Heft wurde vor den ersten beiden verfaßt und enthält autobiographische Skizzen. Erinnerungen an die Kindheit im südafrikanischen Windhoek und an die Ausgrabungen in Kenia wechseln einander ab.

Das vierte und letzte Heft ist eine Zusammenstellung von Berichten über einen Vorfall, der sich in den 30er Jahren unweit des Ausgrabungsortes am Rudolfsee in Kenia zugetragen hat. Zwei Expeditionsteilnehmer kommen nicht zum vereinbarten Treffpunkt und gelten seither als verschollen. Man vermutet, daß sie einem Raubtier zum Opfer gefallen sind.

Der Titel Finis Terrae verweist nicht nur auf die geographischen Stationen der Reisen Höhnels, auf das Ende der Welt, des Festlandes, er meint auch das Ende seiner eigenen Lebensreise. Todkrank arbeitet er an der Übersetzung des Logbuchs und philosophiert über sein Sterben, seine persönliche Chronologie, der er nicht entrinnen kann. Der zentrale Themenkomplex Leben und Tod wird in den vier Heften in vielfältiger Weise abgehandelt. Das Ende der Welt geht einher mit dem Ende des Lebens.
Zum Roman vereint werden die scheinbar unzusammenhängenden Hefte durch die Korrespondenz und das jeweilige Motto, das Höhnel den Carnets vorangestellt hat.
Mit Finis Terrae erweist sich Raoul Schrott als „poeta doctus“. Er läßt Wissen aus verschiedenen Bereichen wie Archäologie, Anthropologie und Astrologie in das Werk einfließen und verarbeitet es zu einem faszinierenden literarischen Text.

Raoul Schrott Finis Terrae
Roman.
Innsbruck: Haymon, 1995.
270 S.; geb.
ISBN 3-85218-197-6.

Rezension vom 09.10.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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