#Roman

Reise nach Karaganda

Susanne Scholl

// Rezension von Ivette Löcker

Karaganda ist ein exotischer Name. Miriam verbindet damit seit der Kindheit die Geschichte des Onkels, der mit seiner Tochter an diesen Ort deportiert worden und als seelischer Krüppel aus dem Stalinschen Gulag ins Nachkriegswien zurückgekehrt war. Der Plan, nach Karaganda zu reisen, um dieser Familiengeschichte nachzuforschen und zu erfahren, wie der Onkel und seine Tochter dort gelebt haben, steht am Anfang des neuen Romans Reise nach Karaganda von Susanne Scholl. Der Entschluss ist zugleich für Miriam das auslösende Moment, sich mit der Geschichte ihrer Eltern und Angehörigen – und damit mit den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts: dem Holocaust und dem Terror unter Stalin – auseinanderzusetzen. Erst auf den letzten Seiten des Romans wird sich Miriam auf den Weg zum Flughafen machen, um nach Karaganda zu fliegen. Am Schluss erst ist sie dafür bereit und mit sich ins Reine gekommen.

Reise nach Karaganda ist Susanne Scholls zweiter Roman. Man kann ihn treffender als „Roman-Collage“ bezeichnen, denn er besteht aus einer Aneinanderreihung von Erinnerungen, Reflexionen, Porträts und halbdokumentarischen Geschichten aus dem heutigen Russland. Karaganda – die richtige Betonung liegt übrigens auf dem letzten „a“, also: Karagandá – ruft in Miriam, der Hauptfigur, eine Flut an Erinnerungen hervor, die oft nahtlos und assoziativ zu Betrachtungen über die Gegenwart, über den Alltag in Russland, und zu Berichten von Schicksalen aus dem vom Westen ignorierten Krieg in Tschetschenien übergehen. Diese Erzählform erzeugt eine große Dichte und verwebt vergangene und gegenwärtige Geschichten. Sie zeigt auf, wie allgemeingültig die Fragestellungen sind: Wie überlebt man Flucht und Vertreibung? Wie bleibt man dabei ein Mensch mit Würde? Miriam ist Anfang 50 und lebt seit mehreren Jahren als Übersetzerin und Dolmetscherin in Moskau. Sie leiht ihre Sprache den „Sprachlosen“ und vermittelt zwischen den Kulturen. Paul, ein junger Mann aus dem Westen mit Job in Moskau, ist ihr bereitwilliger Zuhörer, dessen stille Avancen Miriam aus der Ruhe bringen. Sie schwankt in ihren Gefühlen für ihn, der altersmäßig ihr Sohn sein könnte. Miriam lassen die Fragen an die Vergangenheit nicht los. Ihre Eltern, österreichische Juden und Kommunisten, konnten rechtzeitig vor den „braunen Barbaren“ nach England ins Exil fliehen, wo sie sich für die kommunistische Bewegung engagierten. Ihr Traum war es stets, in das „Land der Hoffnung“, in die Sowjetunion, zu emigrieren. Miriams Onkel und dessen Tochter konnten sich erst nach Riga retten, wurden von dort aber nach Karaganda in den Gulag verschleppt.

Karaganda war einer der berüchtigtsten Lagerorte unter Stalin. Miriam will wissen, wie die beiden an ihrem Verbannungsort gelebt haben – und sie will vor allem auch wissen, warum ihre Mutter und ihr Vater so lange an die Sowjetunion glauben konnten, obwohl sie die Nachrichten über das verbrecherische Stalin-Regime kannten. Wie konnten sie, obwohl sie doch so klug waren, die wahre Natur dieser Ideologie nicht durchschauen? Mit ihrer Mutter reist sie nach England, um die Stationen des Exils kennen zu lernen und Antworten auf die quälenden Fragen zu bekommen. Wie Menschen Deportation, Terror, Zerstörung und Gewalt aushalten und doch Hoffnung haben können, fragt sich die Hauptfigur auch angesichts des Krieges in Russland. Die Erzählungen von der Flucht ihrer Eltern stellt sie jenen von Salima entgegen, die mit ihrer Familie von Grosnij in die Berge fliehen musste und in einem Zug haust, aus dem sie dann später vertrieben wird.

Reise nach Karaganda erzählt auch von Viktor, einem Moskauer Fotografen, der eines Tages erschlagen aufgefunden wird. Von Ala, die ihren Sohn vor dem russischen Militärdienst nur retten kann, indem sie sich von ihm trennt und ihn ins Ausland schickt, und von Ljuba, die an Krebs erkrankt ist und von ihrer Freundin Miriam nicht in diesem Zustand gesehen werden will. Diese skizzenartigen Porträts setzen sich wie ein Mosaik zu einem berührenden Bild des heutigen Russlands zusammen. Es sind die Schicksale Ohnmächtiger, wie jene, die Miriam aus ihrer eigenen Familiengeschichte kennt.

Die Autorin rollt ein komplexes Geflecht an – autobiographisch geprägter – Familiengeschichte auf, deren Kapitel sie parallel zu den Geschichten aus Russland erzählt. Dieses Nebeneinander ähnlicher und doch unterschiedlicher Erfahrungen ist für Miriam ein Schlüssel, um die Vergangenheit und das Verhalten ihrer Eltern besser verstehen zu lernen. Es geht nicht um das Aufwiegen historischer Ereignisse gegeneinander, sondern um universell-menschliche Fragen und die Relativität von Recht und Gerechtigkeit. In einer poetischen Sprache, der man an manchen Stellen etwas zu sehr das gewollt Literarische anmerkt, gelingt es dem Roman von Susanne Scholl eindrücklich, dieses Universelle herauszuarbeiten.
Dennoch bleibt ein kleiner, unbefriedigender Nachgeschmack zurück. Um das Allgemeingültige hervorzuheben, werden (historische) Orte, Personen und Ereignisse oft nicht benannt. Grosnij ist „die Stadt, die keine mehr ist und doch eine zu sein hat“, die Tschetschenen sind „das Volk aus den Bergen“, Stalin ist der „Schnurrbärtige“.
Die Erzählperspektive konzentriert sich auf die Sicht Miriams („Miriam denkt…“, „Miriam weiß…“), Geschichten und Erinnerungen werden ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben. Das trägt dazu bei, dass Ereignisse und Figuren in einer gewissen Distanz bleiben. Sie sind manchmal fast märchenhaft-abstrakt, wo man sich beim Lesen mehr Konkretheit gewünscht hätte, gerade weil sich diese Geschichten an der Grenze zum Dokumentarischen bewegen. Nichtsdestotrotz liest sich der Roman bis zum Schluß sehr spannend.

Susanne Scholl Reise nach Karaganda
Roman.
Wien: Molden, 2006.
183 S.; geb.
ISBN 3-85485-163-4.

Rezension vom 11.04.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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